Eine Streetworkerin gegen den Fundamentalismus
"Das wollen wir doch mal sehen, wer am Ende gewinnt. Die kriegen meine Jugendlichen nicht so einfach." Die, das sind radikale Salafisten. Ultrakonservative Muslime, die den Koran wörtlich auslegen, ihren Glauben leben wie zu Zeiten ihres Propheten und auf der Suche nach neuen Anhängern sind. Und genau das – die Rekrutierung von Jugendlichen – will Saloua Mohammed verhindern.
Die Sozialarbeiterin kämpft für jedes "ihrer" Kinder. Sie ist selbst überzeugte Muslima, trägt Kopftuch. Sie geht in die Moschee, aber manchmal auch in den Kölner Dom, um Ruhe zu finden. Mohammed stammt aus einer liberalen marokkanischen Familie, in der über Religion diskutiert und Toleranz gelehrt wurde. Und das, so sagt sie selbst, habe ihr Argumente und einen Schutzpanzer mit auf den Weg gegeben. Beides kann sie jetzt bei ihrer Arbeit brauchen.
Saloua Mohammed ist Mitte 30 und ein Energiebündel. Wenn sie spricht, sind ihre Hände fast pausenlos in Bewegung. Neben ihrem Job als Sozialarbeiterin beim Caritas-Verband der Stadt Bonn engagiert sie sich seit Jahren ehrenamtlich als Streetworkerin. Die nordrhein-westfälische Stadt gilt als eine Hochburg der salafistischen Bewegung im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland. Bekannte salafistische Prediger wie der konvertierte Ex-Boxer Pierre Vogel sind hier immer wieder öffentlich aufgetreten.
Niemand möchte Journalisten dabei haben
Mohammed arbeitet vor allem mit Jugendlichen, die schon mit der Szene in Berührung gekommen sind. Sie spricht mit verzweifelten Eltern, geht an Schulen oder besucht betroffene Familien zu Hause. Wir treffen Saloua Mohammed in einem Café in der Bonner Innenstadt. Nicht im Einsatz. Zwar wäre sie bereit gewesen, sich von Journalisten bei der Arbeit begleiten zu lassen. Aber ihre "Sorgenkinder" wollten das nicht - ausnahmslos. Das Thema sei einfach zu sensibel, erklärt Mohammed.
Für ihr soziales Engagement bekam sie 2013 den Integrationspreis der Stadt Bonn. Neben dem öffentlichem Lob gibt es aber auch Kritik - und persönliche Beschimpfungen: "Für Rechtsextreme bin und bleibe ich eine Terroristin, die sich – Zitat – eine Bombe um den Bauch binden und in die Luft jagen soll." Salafisten auf der anderen Seite bezeichnen sie als Verräterin ihres Glaubens. Ihnen ist Saloua Mohammed viel zu offen und westlich. "Für die bin ich nur eine 'Euro-Muslima' ", sagt die Streetworkerin und zuckt mit den Schultern.
Mit Anfeindungen von außen kann Saloua Mohammed umgehen, die wischt sie weg. Das sei Meinungsfreiheit, sagt sie, "ein hoch geschätzter Wert in unserer Gesellschaft". Man müsse halt damit leben, dass es Menschen mit anderer Meinung gebe. Schwieriger ist es, wenn Kritik aus dem eigenen Umfeld kommt. Auch das sei ihr passiert, erzählt sie.
Einige Freunde haben sich von ihr abgewendet, sie war ihnen zu liberal. Eine Erfahrung, die weh getan hat, gibt sie zu. Aber trotzdem ist sie überzeugt, das Richtige zu tun. Sie fühlt sich als Deutsche. Als Deutsche mit Migrationshintergrund. "Und ich bekenne mich voll und ganz zu meinem Land."
Wenn das eigene Kind zum Fremden wird
Wenn Jugendliche sich radikalisieren, dann stellt das oft die ganze Familie vor eine Zerreißprobe, berichtet Mohammed. "Die Reaktionen sind ganz unterschiedlich. Es gibt Eltern, die sich, wenn ihr Kind nach Syrien geht, regelrecht von ihm lossagen." Andere dagegen würden verzweifelt darum kämpfen, ihre Kinder wieder zurückzubringen. "Die sagen dann: Ich kenne doch mein Kind. So etwas würde es nicht wollen, so habe ich es nicht erzogen. Bestimmt wird es gezwungen."
Die muslimische Streetworkerin erlebt viel Verzweiflung bei ihren Einsätzen: Eltern, die einerseits oft krank sind vor Sorge um ihre abgetauchten Söhne oder Töchter. Und die andererseits selbst aufgrund des Irrweges ihrer Kinder geächtet und gemieden werden. "Es kommt vor, dass sich Nachbarn oder Freunde distanzieren und die Familie plötzlich ganz allein dasteht."
Egal, an welchem Punkt Saloua Mohammed "ihre" Jugendlichen trifft: Bei ihrer Arbeit dreht sich alles um Vertrauen. Um Hilfe und um Respekt, nicht um Wertung.
"Die Jugendlichen merken sehr schnell, ob sie ernst genommen werden. Ich sage ihnen immer: Ich muss nicht d'accord sein mit dem, was du sagst. Aber ich höre dir zu. Dann reden wir darüber und schauen, ob wir uns vielleicht in der Mitte treffen können."
Aber auch radikale Salafisten hätten ihre Methoden, um schnell einen Draht zu den jungen Menschen aufzubauen. Sie würden mit ihnen über Dinge wie Diskriminierung sprechen oder über das Gefühl, in Deutschland nicht dazuzugehören. Probleme, die gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund oft aus eigener Erfahrung kennen. "Die Salafisten gehen da strategisch vor. Sie versuchen beispielsweise zu schauen, wer aus zerrütteten Familienverhältnissen kommt, wer eher ein Mitläufer sein könnte und wer das Zeug zum Alphatier hat."
Radikalisierung am Bildschirm
Vor ein paar Jahren noch missionierten Salafisten-Prediger offen in Bonn. Selbst vor Schulen versuchten sie unverhohlen, Nachwuchs anzuwerben. Heute, so Mohammed, radikalisierten sich viele im eigenen Kinderzimmer: vor dem Computer. Oft laufe der Erstkontakt zur Szene über Facebook oder offene Chat-Foren wie beispielsweise "Muslim-Markt" oder "Islam House". Dort würde jeder Neuling auf seine Gesinnung und Ernsthaftigkeit gescannt.
"Die Kommunikationskanäle haben sich weiter entwickelt, weil der Druck auf die salafistischen Strukturen größer geworden ist", erklärt Mohammed. Erst im zweiten Schritt werden geprüfte und für gut befundene Interessenten dann zu geschlossenen WhatsApp-Gruppen hinzugefügt. Hier bekommen sie Informationen zu anstehenden Veranstaltungen, Seminaren oder – im Falle von Frauen – zu sogenannten "Schwesterntreffen".
Einen Fall kann Saloua Mohammed bis heute nicht vergessen. Es ging um ein sehr junges Mädchen, das sie aus ihrer Arbeit an Bonner Schulen kannte. "An einem Morgen habe ich einen Anruf von ihren Freundinnen bekommen, die mir gesagt haben: Saloua, sie ist abgetaucht. Wir wissen nicht, wo sie ist. Kurz davor hatten die Freundinnen herausbekommen, dass das Mädchen über Facebook mit einem deutlich älteren Mann aus der salafistischen Szene Kontakt aufgenommen und Heiratspläne geschmiedet hatte."
In einer Nacht- und Nebelaktion sei das Mädchen dann zu dem Mann gefahren. Glücklicherweise sei es mit Hilfe der Eltern und der Polizei gelungen, sie innerhalb weniger Stunden aufzuspüren und wieder zurückzuholen. Dann habe sie lange Gespräche mit dem Mädchen geführt, erzählt Saloua Mohammed. "Dabei hat sich herausgestellt, dass sie all das nur gemacht hat, um ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Die hatten vor, sich zu trennen. Das war eine reine Verzweiflungsaktion."
Zurück aus der Hölle des IS
Immer wieder hat die Streetworkerin auch mit Rückkehrerinnen zu tun. Junge Frauen, die für ihre extremen religiösen Überzeugungen bis nach Syrien und in den Irak gegangen sind, um dort den vermeintlichen Traum vom Leben im IS-"Kalifat" zu leben.
Die Frauen, die jetzt von dort wieder zurückkommen, sind für Mohammed in erster Linie hoch traumatisierte Menschen. "Rückkehrerinnen sprechen teilweise von einer regelrechten Hölle, die sie erlebt haben. Sie haben Gewalterfahrungen gemacht, haben teilweise ständige Ortswechsel hinter sich. Und das Gefühl, nirgendwo mehr sicher zu sein."
Für einige seien die Erfahrungen derart traumatisch, dass sie nach ihrer Rückkehr nur noch verdrängen und am liebsten gar nicht mehr darüber sprechen wollten. In manchen Fällen könne ein Schweigen allerdings auch ein Indiz dafür sein, dass die Frauen sich innerlich nicht von der IS-Ideologie losgesagt hätten, ist Mohammed überzeugt.
Das deckt sich mit der Einschätzung des Verfassungsschutzes, wonach es gerade auch unter zurückkehrenden Frauen viele gibt, die hochgradig ideologisiert, radikalisiert und auch gewaltbereit nach Deutschland zurückkommen und direkt in ihr altes salafistisches Umfeld zurückkehren.
Zwölf Prozent der 3.000 Anhänger der salafistischen Szene in NRW sind weiblich, heißt es im aktuellen Verfassungsschutzbericht, der im Sommer 2018 veröffentlicht wurde. Demgegenüber liegt der Frauenanteil unter den Ausreisen aus NRW ins selbst ernannte "Kalifat" mit 28 Prozent deutlich höher.
Viel Hilfe ist nötig
Als Sozialarbeiterin muss Mohammed Rückkehrerinnen bei vielen Dingen Hilfestellung geben. Zum Beispiel beim Umgang mit der Bürokratie, wenn Geburtsurkunden oder Ausweispapiere für im IS-Gebiet geborene Kinder fehlen. "Dann sagen die Beamten natürlich: sorry, wenn das nicht vorliegt, können wir eigentlich gar nichts machen. Das baut auf der einen Seite Frust auf. Auf der anderen Seite dämmert manchen die bittere Erkenntnis: 'Okay, das ist jetzt die Zeche für diese fatale Entscheidung'. Dann, wenn die Personen reflektieren und auch offen sind, darüber zu reden."
In der Beratung erlebt Mohammed ein breites Spektrum an Gefühlen: "Da ist Verzweiflung, Hass auf Alles und Jeden, auch Momente der Reue. Im Laufe des Beratungsprozesses reflektieren wir aber auch gemeinsam die kleinsten Erfolgsschritte. Da freut sich mein Herz." Diejenigen Rückkehrer, die komplett dicht machen, seien oft Opfer von Gewalt, auch sexualisierter Gewalt geworden, schildert sie.
Egal, in welcher Verfassung die Frauen zurückkehren – man dürfe sie auf keinen Fall sich selbst überlassen, ist Saloua Mohammed überzeugt. Ohnmacht, Enttäuschung und das Gefühl, in Deutschland keine Hilfe für einen Neustart zu bekommen, würden die Frauen gleich wieder anfällig machen für extremistische Einflüsse.
"Ich habe Bauchschmerzen bei dem Gedanken daran, was passiert, wenn Frauen, die nach ihrer Rückkehr enttäuscht und desillusioniert sind, im richtigen Moment wieder von Extremisten angesprochen und abgefangen werden." Unter Umständen droht dann sogar eine noch heftigere Radikalisierung als zuvor.
Esther Felden
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