"Diese Menschen wollen eine Chance"
Der Hilferuf kam von einem Plastikboot. Hundert Menschen lagen dicht nebeneinander gepresst, als das Wasser durch das Leck sickerte. Das kleine Boot, für zehn Menschen gebaut, wurde durch das Gewicht der vielen Passagiere immer weiter nach unten gedrückt. Als Mussie Zerai die italienische Küstenwache verständigte, stand das Boot schon zur Hälfte unter Wasser.
Doch diesmal ging es schnell genug, die Retter kamen rechtzeitig. Insgesamt holten sie am vorvergangenen Wochenende mehr als 3.000 Flüchtlinge von 18 Booten aus dem Mittelmeer. Etliche von ihnen verdanken ihr Leben Mussie Zerai. Wie schon Tausende vor ihnen.
Es ist ein warmer Augustmorgen. Mussie Zerai, 40, tiefe Stimme, grau melierter Bart, lässt sich auf einen Stuhl im Gemeinschaftsraum der katholischen Pfarrei fallen und reibt sich die Augen. Es sei die pure Verzweiflung, die die Menschen auf die Boote treibe, sagt er. "Sie wollen einfach leben, auch wenn sie dafür den Tod in Kauf nehmen".
Zerai wirkt erschöpft. Nur für wenige Tage macht er Station in Erlinsbach, einem Dorf in der deutschsprachigen Schweiz. Von hier aus betreut der Pfarrer, 1992 aus Eritrea nach Europa geflohen, im Auftrag des Vatikan seine 6.500 katholischen Landsleute. Die meiste Zeit aber ist er unterwegs. Er besucht Flüchtlingcamps in Äthiopien und Italien, spricht auf Konferenzen der UN, debattiert über Asylpolitik, trifft EU-Parlamentarier in Brüssel.
Sein Tenor ist immer gleich. "Diese Menschen wollen eine Chance", sagt er. Damit sie die bekommen, ist Zerai ständig in Alarmbereitschaft. Denn seine Nummer ist für viele Bootsflüchtlinge oft die allerletzte Hoffnung.
Hilfe in der Not
2003 bekam Zerai die ersten Anrufe von Flüchtlingen, die auf dem Mittelmeer in Not geraten waren. Ein Journalist hatte über die desaströse Lage der Eritreer in einem Gefängnis in Libyen berichtet und per Telefon Kontakt zu Zerai aufgenommen.
Einer der Flüchtlinge kritzelte die Nummer später an eine Gefängnismauer. "Ruft dort an, wenn Ihr in Gefahr seid", stand daneben. Schnell zirkulierte die Nummer in den Lagern der muslimischen, orthodoxen und christlichen Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia, Äthiopien, in den libyschen Foltergefängnissen, unter den Syrern, die von Nordafrika aus zu der riskanten Fahrt nach Italien ansetzen.
Seither klingelt Zerais Telefon fast ununterbrochen. Wenn Flüchtlingsboote zu kentern oder Asylsuchende zu verdursten drohen, rufen sie ihn mit einem Satellitentelefon der Schlepper an. Zerai notiert die Position des Bootes und leitet die Daten an die italienische Küstenwache weiter, die Hilfe organisiert.
Italienischen Behörden zufolge hat Zerai schon mehreren Tausenden Menschen das Leben gerettet. "Engel der Flüchtlinge" wird der Kandidat für den Friedensnobelpreis deshalb genannt. Viele Flüchtlinge nennen ihn einfach nur "Vater Moses".
Engagiert für die Rechte der Flüchtlinge
Zerai wurde 1975 in Asmara geboren, der heutigen Hauptstadt Eritreas. Seine Mutter starb als er fünf Jahre alt war, sein Vater wurde von der Geheimpolizei verschleppt, die Großmutter kümmerte sich um Zerai und seine Geschwister. Mit 16 floh er nach Rom. Hier lernte er einen britischen Priester kennen, der minderjährigen Flüchtlingen mit den Asylanträgen half. Zerai übersetzte für ihn und kam in Kontakt mit den Scalabrini-Missionaren, einem katholischen Männer-Orden, der sich um Flüchtlinge und Migranten kümmert.
Drei Jahre studierte Zerai in der Heimatstadt des Gründers der Scalabrini, dann verbrachte er sieben Jahre in einer Scalabrini-Mission in Rom. Hier traf er auf geflüchtete Afrikaner, die auf der Straße lebten, weder eine Arbeit noch Aufenthaltserlaubnis hatten. Zerai organisierte Protestzüge und kritisierte zunehmend öffentlich die europäische Asylpolitik.
2006 gründete er die Organisation "Agenzia Habeshia", mit der er sich für die Rechte der Flüchtlinge einsetzt. Er redet auf Gedenkveranstaltungen für bei der Überfahrt umgekommene Flüchtlinge, spricht im italienischen Fernsehen, wendet sich an Hilfsorganisationen, um etwa bei Schiffsunglücken gemeinsam die Verantwortlichen zu stellen.
Vorurteile abbauen
Und er versucht, Vorurteile abzubauen. "Viele Europäer verstehen nicht, wovor diese Menschen fliehen", sagt Zerai. Deshalb hält er an Schulen und Universitäten Vorträge. Dann spricht er darüber, dass in seinem Land Eritrea, das als eine der brutalsten Militärdiktaturen der Welt gilt, junge Männer oft ihr Leben lang zum Militärdienst gezwungen werden, Folter und Willkür an der Tagesordnung sind.
Er berichtet davon, wie die Menschen für ihren Wunsch nach Freiheit oft zu Fuß aufbrechen, nach Sudan, nach Ägypten oder quer durch die Sahara, weiter nach Libyen, wie sie oft jahrelang unterwegs sind. Er spricht auch von den Bomben in Syrien, von den Plünderungen und Zerstörungen.
"Die Flüchtlinge sind nicht Eure Feinde", sagt er den Zuhörern. "Sie brauchen Eure Hilfe." Immer wieder trifft er sich mit Einwohnern der Gemeinden und den muslimischen und christlichen Flüchtlingen. Sie sitzen dann alle an einem Tisch und diskutieren, über den Islam, den Glauben, Jesus. Er als Christ möchte klarmachen, dass der Islam keinesfalls radikal sei. Dass einige Menschen die Religion missbrauchten, um ihre Gewalt zu rechtfertigen. Und dass die Flüchtlinge vor allem eines wollten: Frieden.
Dass er mit seiner Hilfe die Flüchtlinge zu der gefährlichen Fahrt über das Mittelmeer ermuntere und den Schleppern zuarbeite, wie einige Kritiker Zerai vorwerfen, weist er zurück. "Wir sagen den Menschen in den Camps in Nordafrika immer wieder, wie riskant die Überfahrt ist", sagt er. "Sie antworten: 'Wir müssen es wenigstens versuchen'".
"Habt Geduld!"
Weil er fürchtet, Anrufe zu versäumen, etwa, weil er eine Messe oder Taufe leitet, hat er seit einigen Monaten Helfer, die quer in Europa verstreut rund um die Uhr die Anrufe über eine zweite Alarmnummer annehmen. Parallel erreichen Zerai oft bis zum Morgengrauen Notrufe. "Ich organisiere Hilfe", sagt er dann mit seiner ruhigen Stimme. "Habt Geduld!"
Unter "Mare Nostrum", jener Operation der italienischen Marine und Küstenwache, die gegründet wurde, nachdem im Oktober 2013 ein Kutter mit 400 Menschen vor Lampedusa kenterte, habe es oft nur drei Stunden gedauert, bis ein Boot aufgespürt wurde. Seit das Rettungsprogramm durch die EU-Mission "Triton" der Grenzschutzagentur Frontex abgelöst wurde, dauerte es oft zwei, drei Tage. Oft fehlten den Rettern die Kapazitäten, um nach den Booten zu suchen, sagt Zerai.
Der Pastor ist davon überzeugt, dass sich die Zahl der Menschen, die bei der Überfahrt ihr Leben verlieren, noch dramatisch erhöhen werde, wenn die EU ihre restriktive Politik nicht ändere. "Die Flüchtlinge haben oft alles hinter sich gelassen. Sie bekommen kein Visum, weil ihnen die notwendigen Dokumente fehlen."
Deshalb, sagt er, haben sie keine andere Wahl, als auf die Offerten der Schlepper, die nur das Geld und nicht das Leben der Flüchtlinge interessiere, einzugehen. Die EU spiele so jenen Kriminellen in die Hände, die sie vorgeblich bekämpfen wolle. Es sei seine Pflicht, als Christ, als Mensch, sich um seine Mitmenschen zu kümmern, sagt Zerai noch und erhebt sich. "Ich kann nicht alle retten. Aber soviele wie möglich."
Andrea Backhaus
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