Ein leiser Kritiker
Ilham Tohti ist kein typischer Dissident. In erster Linie versteht sich der 44-jährige Uigure als Wissenschaftler. Geboren wurde er 1969 im kleinen Städtchen Artush in Chinas westlichster Provinz Xinjiang. Doch zum Studium zog er aus der Provinz zunächst nach Changchun und dann nach Peking, wo er in der Folge zu einem angesehenen Wirtschaftswissenschaftler avancierte.
An der Minzu-Universität in Peking untersuchte Tohti unter anderem über mehrere Jahre die soziale Lage der Uiguren in seiner Heimatprovinz Xinjiang. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass die Uiguren in Xinjiang keineswegs den Han-Chinesen gleichgestellt sind. Im Gegenteil: Für Uiguren gebe es weniger Arbeitsplätze, sie würden für die gleiche Arbeit schlechter bezahlt und von den chinesischen Behörden systematisch benachteiligt.
Gemäßigte Töne
Wiederholt kritisierte Tohti die Politik der Zentralregierung gegenüber den Uiguren. Im Gegensatz zu anderen uigurischen Regimekritikern – wie der mittlerweile in den USA lebenden Rebiyah Kadeer – gilt er als gemäßigter Regimekritiker, der immer für eine bessere Verständigung zwischen Uiguren und Han-Chinesen geworben hat. "Er ist sogar der einzige einflussreiche uigurische Intellektuelle, der öffentlich die Meinung vertritt, dass Xinjiang weiter zu China gehören und einen Autonomiestatus nach demokratischen Prinzipien bekommen soll", sagt der bekannte chinesische Schriftsteller Wang Lixiong: "Das unterscheidet ihn stark von den meisten Exil-Uiguren."
Im Jahr 2006 gründete Tohti die Webseite "Uyghur online", die die Belange der Uiguren thematisieren sollte. Zwei Jahre später wurde die Seite von den chinesischen Behörden gesperrt und Tohti unter der Anschuldigung verhaftet, er würde den uigurischen Separatismus fördern. Anfang Juli 2009 brachen in der Provinzhauptstadt Urumqi schwere Unruhen aus, mehr als 150 Menschen starben. Erneut wurde Tothi verhaftet, unter dem Vorwurf, die Aufstände angestachelt zu haben. Auf internationalen Druck hin wurde er wenige Wochen später wieder freigelassen.
"Spannungen zwischen Han-Chinesen und Uiguren gab es schon früher", sagte Tohti im September 2009: "Aber sie haben sich nie zum gegenseitigen Hass ausgeweitet. Ich bin der Meinung, dass das Vertrauen zwischen der uigurischen Minderheit und den Han-Chinesen jetzt aber zerstört ist. Ich meine auch, dass der ethnische Hass mittlerweile eine feste Form angenommen hat. Wenn Peking das nicht unter Kontrolle bekommt und sich weiterhin wie ein Kolonialherr verhält, dann wird man Tragödien wie diese immer wieder erleben."
Kurzer Prozess
In der Folgezeit stand Ilham Tohti wiederholt unter Hausarrest. Seit Januar 2014 ist er erneut in Haft. Nach seiner Festnahme in Peking wurde er ins 2.500 Kilometer entfernte Urumqi gebracht, wo die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den 44-Jährigen erhoben hatte. Der gegen ihn erhobene Vorwurf lautet "Separatismus und Anstiftung zum Rassenhass".
Ein Vorwurf, den sein Verteidiger, Liu Xiaoyuan, nicht nachvollziehen kann: "Tohti ist gegen Separatismus", sagte er in einer Verhandlungspause. "Er hat nur rechtliche und kulturelle Missstände thematisiert. Aber er ist vollkommen gegen eine Loslösung Xinjiangs vom Rest des Landes", so der Anwalt. "Er hat nie etwas Illegales getan", sagte Tohtis Frau während derselben Verhandlungspause. "Er hat nie davon geredet, das Land zu spalten. Er hat sich nie gegen die Regierung oder gegen das Volk gewendet. Er ist nur ein Wissenschaftler."
Der Prozess dauerte nur zwei Tage. Am 23.09.2014 wurde er zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Schriftsteller Wang Lixiong bewertet den Prozess und das Urteil gegen Ilham Tohti als schweren Fehler: "Tohti wollte eine Brücke zwischen Uiguren und Han-Chinesen schlagen. Aber jetzt wurde er verurteilt, wie kann man da sagen, dass die Regierung eine vorteilhafte Politik gegenüber den Uiguren durchführt?", kritisiert der Schriftsteller. "Der Fall von Tohti liefert den radikalen Kräften den Beleg, dass der mittlere Weg absolut nicht gangbar ist. Für sie ist das auch eine Lektion, sich auf keinen Fall auf diesen Weg zu begeben. Eigentlich wollte Tohti mit dem eigenen Beispiel gerade zeigen, dass dieser mittlere Weg möglich ist. Nun können die radikalen Kräfte sagen, wir hatten recht."
Thomas Latschan
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