Unter Kontrolle
Die Liste der diesjährigen Gewalttaten in Xinjiang ist lang und wird immer länger: 22 Tote bei einem Angriff auf einen Markt von Han-Bauern am 12. Oktober; 50 Tote bei Attacken auf Polizeistationen am 21. September; 96 Tote bei Angriffen auf Regierungsgebäude am 28. Juli; 31 Tote bei einem Selbstmordanschlag auf einen Markt am 22. Mai; 33 Tote bei einem Messerangriff im Bahnhof von Kunming am 1. März. In allen Fällen sprechen die chinesischen Behörden von "Terrorakten", immer sind Uiguren die Täter, meist Han-Chinesen die Opfer – doch viel mehr ist aus den Staatsmedien nicht zu erfahren.
Unruhen und vereinzelte Anschläge hat es auch früher in Xinjiang gegeben, einer dünn besiedelten Wüstenprovinz im äußersten Westen Chinas, die traditionell von Uiguren, Kirgisen, Tadschiken und anderen muslimischen Volksgruppen bewohnt wird. Doch seit den schweren Unruhen von 2009 ist in den Oasenstädten am Rande der Taklamakan-Wüste eine Eskalation der Gewalt zu beobachten. Neben Anschlägen werden fast wöchentlich Polizisten, Beamte und Han-Bauern getötet. Zugleich nimmt die Repression zu, regelmäßig werden junge Uiguren zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Die Behörden machen pauschal "Terroristen" für die Gewalt verantwortlich. Ihrer Darstellung nach steckt zumeist die "East Turkestan Islamic Movement" (Etim) hinter den Anschlägen, eine islamistische Gruppierung, die im Jahr 2002 auf Drängen Chinas und mit Unterstützung der USA auf die UN-Terrorliste gesetzt wurde. Doch konkrete Beweise für die Verwicklung der Gruppe gibt es meist nicht.
"Niemand weiß, welche Rolle Etim wirklich spielt und ob sie als klassische Organisation überhaupt noch existiert. Doch für China ist sie praktisch, da man sie für alle Angriffe verantwortlich machen und die uigurische Opposition kriminalisieren kann", meint Daniel Krahl. Der Experte für den Islam in China an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin führt die zunehmende Gewalt weniger auf religiösen Extremismus als auf den Unmut der Uiguren über ihre Ausgrenzung und die systematische Ansiedlung von Han-Chinesen zurück.
Ausgegrenzt und marginalisiert
Seit 1949 ist deren Anteil in Xinjiang von fünf auf rund 40 Prozent gestiegen. Nach den Uiguren sind sie nunmehr die größte Volksgruppe, in vielen Städten stellen sie längst die Mehrheit. "Die Zuwanderung hat ein Ausmaß erreicht, dass inzwischen alle Uiguren betroffen sind. Ganze Städte sind heute chinesisch", sagt Krahl.
Die Situation in einst uigurischen Städte wie Kashgar verdeutlicht, wie die Volksgruppe in ihrer eigenen Heimat sozial und kulturell marginalisiert wird: Große Teile der Altstadt sind inzwischen abgerissen und die Bewohner in neue Wohnblöcke am Stadtrand umgesiedelt, die verbliebenen Basare um die Freitagsmoschee wurden in eine Art Freiluftmuseum verwandelt.
"Auch anderswo in China werden Städte kaputt gemacht", sagt Krahl. "Aber in Xinjiang ist das besonders brisant, da es als Angriff auf die uigurische Kultur interpretiert wird. Dadurch wird den Uiguren das Gefühl einer ausweglosen Situation gegeben, was zu Verzweiflungstaten führt."
Die Regierung in Peking verweist darauf, dass sie in Xinjiang wie in Tibet viel zum Ausbau der Infrastruktur und zur Entwicklung der Wirtschaft unternehme. Dies ist unbestreitbar, doch ist auch klar, dass von dieser Entwicklung die Han-Chinesen mehr profitieren als die Uiguren. Laut Krahl sehen sich die Uiguren bei den Han traditionell starken Ressentiments ausgesetzt, sie gelten als unzuverlässig und kriminell. Auch in den ostchinesischen Städten werden sie diskriminiert und leben, von einigen Kadern abgesehen, am Rand der Gesellschaft. In Xinjiang unterliegen sie zudem strengeren Kontrollen und deutlichen Einschränkungen bei der Ausübung ihrer Sprache, Kultur und Religion.
Human Rights Watch (HRW) hat ausführlich dokumentiert, wie die Religionsfreiheit der Uiguren seit den späten 1990er Jahren schrittweise eingeschränkt wurde. Besonders infolge der Anschläge vom 11. September 2001 hätten die Behörden die Kontrollen verschärft, schreibt die Menschenrechtsorganisation in einem Bericht von 2012. Der Kampf gegen religiösen Extremismus in Xinjiang werde seitdem als Teil des internationalen Kampfes gegen den Terror präsentiert. Islamismus und Separatismus werde grundsätzlich mit Terrorismus gleichgesetzt.
Religion unerwünscht
Obwohl die Uiguren überwiegend einem traditionellen, synkretistischen Volksislam folgen, unterliegen sie laut dem HRW-Bericht strengeren Bestimmungen als andere Muslime in China. Demnach ist Minderjährigen in Xinjiang das Betreten von Moscheen verboten, private Korankurse sind untersagt. An Schulen darf nicht über Religion gesprochen werden, beten, fasten oder das Tragen des Kopftuchs wird dort streng sanktioniert. Islamische Schriften dürfen nicht aus dem Ausland eingeführt werden und Uiguren ist untersagt, zu Religionsstudien ins Ausland zu reisen.
Derartige Einschränkungen der Grundrechte provozieren immer wieder heftige Proteste, die angesichts des harten Vorgehens der Polizei in Gewalt umschlagen. Laut Recherchen des US-Senders "Radio Free Asia" (RFA) begannen die Unruhen Ende Juli bei Yarkand, die mit 96 Toten den blutigsten Vorfall seit Beginn der schweren Unruhen von 2009 darstellten, mit Protesten gegen strenge Kontrollen während des Fastenmonats Ramadan. Demnach war der Auslöser der Proteste die Erschießung einer fünfköpfigen Familie durch die Polizei, nachdem es Streit wegen eines Kopftuchs gegeben hatte.
Nach offiziellen Angaben wurden bei den Unruhen zum Ende des Ramadan 35 Han und zwei Uiguren getötet. Die anderen 59 Opfer waren demnach „Terroristen“. Auch bei den Unruhen am 21. September, bei denen in den Orten Bugur, Yengisar und Terekbazar mehrere Polizeiwachen mit Sprengsätzen angegriffen wurden, waren laut Informationen staatlicher Medien 40 der 50 Opfer "Terroristen". Laut RFA, das per Telefon Augenzeugen befragte, war in diesem Fall der Unmut über Zwangsumsiedlungen der Auslöser. Demnach wurden alle Opfer von der Polizei getötet.
Kein Ende der Gewalt absehbar
In diesen, wie in anderen Fällen sind unabhängige Recherchen vor Ort kaum möglich. Die genauen Ursachen, Abläufe und Opferzahlen der Vorfälle bleiben daher im Dunkeln. Nach Ansicht des China-Experten Krahl deutet die Form der Angriffe aber darauf hin, dass keine organisierten Gruppen dahinter stecken. Der Planungsaufwand sei offensichtlich gering und meist würden Hackmesser oder andere einfache Waffen wie Äxte verwendet, sagt Krahl. Auch bei den Anschlägen von Urumqi Ende Mai sei der eingesetzte Sprengstoff eher primitiv gewesen.
Ein Ende der Gewalt erwartet der Politologe nicht. "Der Staat wird nicht nachgeben, die Repression wird zunehmen, und die Uiguren werden immer verzweifelter und damit gewaltbereiter", sagt Krahl.
Tatsächlich macht Peking keine Anstalten, auf die Uiguren zuzugehen. Der Prozess gegen den uigurischen Bürgerrechtler und Professor Ilham Tohti, der mit einigen Studenten eine Internetseite zu den Uiguren betrieb, zeigte jüngst vielmehr, dass die Behörden auch moderate Kritiker nicht länger dulden wollen. Am 23. September wurde Tohti wegen Separatismus zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Lösung des Konflikts sei nicht mehr Repression, sondern mehr Verständnis für die berechtigten Klagen der Uiguren, mahnte HRW-Chinadirektorin Sophie Robinson anlässlich des Prozesses. Wenn selbst Tohti, der sich stets friedlich für den Dialog zwischen den Volksgruppen eingesetzt und gegen die Unabhängigkeit Xinjiangs ausgesprochen habe, als Separatist dargestellt werde, sei kaum absehbar, dass die Spannungen in Xinjiang zwischen den Volksgruppen abnehmen.
Ulrich von Schwerin
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