Ethnologische Spurensuche in der Megacity Kairo

Das Buch "Youth, Gender and the City" präsentiert Forschungsprojekte von sieben jungen Ethnologen der Freien Universität Berlin, die bemerkenswerte Einblicke in die Mikrokosmen der ägyptischen Gesellschaft eröffnen. Von Leonie Kircher

Das vom Ethnologen Thomas Hüsken in Kooperation mit dem Goethe Institut in Kairo herausgegebene Buch "Youth, Gender and the City" präsentiert Forschungsprojekte von sieben jungen Ethnologen der Freien Universität Berlin, die bemerkenswerte Einblicke in die Mikrokosmen der ägyptischen Gesellschaft eröffnen. Von Leonie Kircher

Ägyptische Jugendliche in Kairo; Foto: AP
Aufschlussreiche Einblicke in Ägyptens Jugendkultur: Die Forschungsfelder reichen von Shopping Malls bis hin zu interkulturellen Liebesbeziehungen und Frauennetzwerke in Kairos Vorstädten.

​​ Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit für ihren magister artium führten die sieben Jungforscher über einen Zeitraum von drei Monaten Feldforschungen in der Megametropole Kairo durch.

Das Projekt leitete Thomas Hüsken, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Ethnologie der Universität Bayreuth. Im Vorfeld des Projektes fanden über zwei Semester hinweg Vorbereitungskurse statt.

Die Teilnehmer wurden sowohl in die Forschungsmethodik als auch in die arabische Sprache eingeführt, um die wissenschaftlichen Untersuchungen zu einem späteren Zeitpunkt weitestgehend autonom durchführen zu können.

Keiner der Teilnehmer war je zuvor in Kairo gewesen, um so größer war die Neugier. Nach den ersten überwältigenden Eindrücken vor Ort galt es, die jeweiligen Projekte in Angriff zu nehmen.

Neue, ungewohnte Einblicke

Die Feldforschungen reichten von soziologischen Untersuchungen in Shopping Malls bis hin zu interkulturellen Liebesbeziehungen über Frauennetzwerke in den Vorstädten Kairos. Jede Untersuchungsprojekt eröffnet dem Leser von "Youth, Gender and the City" einen anderen Mikrokosmos der Millionenstadt Kairo. Selbst Kairo-Kenner dürfen mit neuen und ungewohnten Einblicken rechnen.

Kairo Khan el Khalili; Foto: dpa
Eine Studie in "Youth, Gender and the City" führt den Leser auch in die Altstadt Kairos - nach "Misr Qadima", wobei das Thema "Frauen und Arbeitslosigkeit" im Mittelpunkt der Studie stand.

​​ Hüsken betont, dass die Teilnehmer bei ihren Feldforschungen auf sich allein gestellt waren. "Die Studenten sollten ihre eigenen Forschungserfahrungen machen. Natürlich stand ich bei Fragen zur Verfügung und half, gemeinsam das Vorgehen zu reflektieren", so Hüsken. "Im Rahmen regelmäßig stattfindender Seminare und Workshops, hatten die Forschenden darüber hinaus die Gelegenheit, auftauchende Probleme zu diskutieren und Lösungen zu entwickeln."

Probleme ergaben sich tatsächlich während der Umsetzung des Forschungsvorhabens: Gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen, eigenwillig agierende NGOs – all diese konnten sich als hinderliche Faktoren erweisen.

Nachdem die Studenten nach Deutschland zurückgekehrt waren, mussten sie sich einer neuen Herausforderung stellen. Diese bestand in der Auswertung und Verschriftlichung der zusammengetragenen Daten.

Studie komplexer sozialer Faktoren

Eine Studie führt den Leser in die Altstadt Kairos, nach "Misr Qadima". Tabea Goldboom machte sich auf in dieses Viertel, um zum Thema "Frauen und Arbeitslosigkeit" Forschungen anzustellen. Ihr Bericht durchleuchtet, wie Arbeitslosigkeit, familiäre Wertevorstellung, die sozio-ökonomische Stellung, Bilder vom Berufsethos und das klassische Rollenbild der Frau sich gegenseitig beeinflussen.

Quelle: Goethe Institut
Feldforschung findet nicht am grünen Tisch statt, sondern unmittelbar im gesellschaftlichen Leben: Das Cover von 'Youth, Gender and the City'

​​ Das Interessante an den Studien sind nicht nur die Ergebnisse allein, sondern auch die geschilderten Forschungsumstände und die Reflektionen der Wissenschaftler. Die persönliche Ebene, auf welcher die Erfahrungen weitervermittelt werden, ermöglicht dem Leser einen unmittelbaren Blick über die Schulter des Ethnologen.

Man erfährt, wie kompliziert ein vermeintlich simpler Ansatz in der Umsetzung ist. Feldforschung findet nicht am grünen Tisch statt, sondern unmittelbar im gesellschaftlichen Leben. Sie ist deshalb immer auch politischen Interessen ausgesetzt.

So versuchten die Vertreter einer karitativen NGO zu verhindern, dass die Jungethnologen Kontakt zur der lokalen Bevölkerung aufnahmen. Man hatte Angst vor unliebsamen Ergebnissen. Nichtsdestotrotz konnten alle Ethnologen ihr Thema schließlich umzusetzen. Mit dem Buch erhält man einzigartige Einblicke in die Gesellschaft Ägyptens, dabei wird der explorative Charakter der Darstellungen ausdrücklich betont.

Ein aufschlussreiches Panorama

Es ist aber gerade die Zusammenführung der Forschungsprojekte in einem Buch, welches dem Leser bleibende Eindrücke vermittelt, jenseits wissenschaftlicher Abstraktionen und Theorien, wie sie sonst bei Publikationen dieser Art üblich sind.

Dass eine solch ungewöhnliches Forschungsprojekt durchgeführt werden konnte, ist keine Selbstverständlichkeit, betont Thomas Hüsken: "Das ist ein Privileg, das eine arabische Gruppe junger Ethnologen sicher nicht genießen würde."

Man sei froh über die überaus produktive Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut in Kairo. Diese Institution, die in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum feiert, hat ihren Fokus auf das Thema 'Jugendkultur im urbanen Raum' verstärkt.

Dass man mit "Youth, Gender and the City" als "Kick off" für diese Schwerpunktreihe ein erfolgreiches Projekt realisieren konnte, sei ein sehr zufrieden stellendes Fazit, resümiert Thomas Hüsken.

Leonie Kircher

© Qantara.de 2009

Dr. Thomas Hüsken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bayreuth. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist "Die Herausbildung nichtstaatlicher Formen von Herrschaft im heutigen Afrika". 'Youth, Gender and the City' kann bestellt werden über das Goethe Institut München, das Goethe Institut Kairo oder den Fachbereich Ethnologie der Universität der Bayreuth.

Qantara.de

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