Was real ist, bestimmt jeder selbst
Ahmad Abdallah ist einer der spannendsten jüngeren Filmemacher in Ägypten, weil sich die Zuschauer kaum sicher sein können, was er ihnen vorsetzt: Nach seinen erfolgreichen Underground-Dokumentationen "Heliopolis" (2009) und "Microphone" (2010) schwenkte er mit "Rags and Tatters" (2013) radikal um und drehte einen ruhigen, fast experimentellen Film von den Rändern der ägyptischen Revolution.
Mit "Décor" (2014) ist aus dem Independent-Regisseur Abdallah ein Mann des großen Budgets geworden, statt sieben oder acht Mitarbeitern hatte er ein knapp hundertköpfiges Team, man sieht dem Film die finanziellen Möglichkeiten an.
Also ein radikaler Bruch? Nein. "Décor" ist der (gelungene) Versuch einer Reflektion über die Freiheit der Entscheidung. Was macht man als Regisseur, wenn man alle Freiheiten hat? Was machen die Filmfiguren, wenn sie diese Freiheiten nicht haben? Wenn äußere Zwänge Entscheidungen verlangen, die die Größe eines einzelnen Lebens übersteigen?
Maha (Horeya Farghaly), die Protagonistin, ist eine erfolgreiche Set-Designerin beim Film. Sie ist eine gewollt kinderlose Karrierefrau, die gemeinsam mit ihrem gutaussehenden Partner Sherif (Khaled Abol Naga) die Kulissen einer lieblosen B-Produktion gestaltet. Maha ist Perfektionistin, aber der große Zeitdruck im kommerziellen Filmgeschäft lässt keine Freude an der Arbeit zu, sondern nur Stress. Plötzlich gibt es einen eleganten, flotten Schwenk, und Maha findet sich im Film selbst wieder, in einer Illusion, in der sie die Ehefrau eines liebevollen Langweilers (Maged El Kedwany) und Mutter einer renitenten Tochter ist.
Zwischen Realität und Illusion
Regisseur Abdallah setzt diesen Schwenk sehr geschickt ein und zeichnet beide Welten in einem weichen, mitunter fast träumerischen Schwarzweiß. Bald ist man sich gar nicht mehr so sicher, welche Welt die Realität und welche die Illusion ist: Hier die erfolgreiche, aber gestresste Karrierefrau, dort die geliebte, aber auch unglückliche Mutter. Die Themen der beiden Welten verschränken sich, angeleitet durch die einzige Konstante, einen listigen Psychologen: Sind die Drei wirklich glücklich mit den Entscheidungen der Vergangenheit?
Die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft, der Einfluss der Außenwelt (es herrscht eine Ausgangssperre), die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – Ahmad Abdallah lässt seine Figuren die großen Themen umkreisen, ohne sich selbst zu einer Entscheidung gezwungen zu sehen. Das funktioniert sehr gut, auch wenn nicht jeder Schwenk in den 116 Filmminuten die Geschichte wirklich voranbringt und die Geduld des Publikums ein wenig zu sehr beansprucht.
Trotzdem hat Abdallah mit "Décor" einen großartig inszenierten Autorenfilm gedreht, der sich vor den Frauenfiguren des arabischen Kinos verbeugt: Im Hintergrund laufen immer wieder Ausschnitte aus den Filmen von Faten Hamama, der im Januar 2015 verstorbenen großen ägyptischen Schauspielerin. Die "Décor"-Protagonistin Maha ist vernarrt in Hamamas Filme, eine Metapher für ihren Wunsch, auch so frei und stark sein zu wollen.
Auf der Bühne des Berliner Alfilm-Festivals muss Khaled Abol Naga schmunzeln, er hat Frage nach den filmischen Metaphern erwartet. "Ehrlich gesagt spielen wir mit diesem Film nur mit dem Publikum", sagt der 48-jährige Filmstar. "Wenn Sie eine Metapher darin sehen, dann ist das so. Jeder Zuschauer hat seine eigene Vorstellung."
Auch in diesem Sinne war "Décor" ein gut gewählter Auftaktfilm 6. Alfilm-Festivals, denn er öffnete das Festival für mehrere thematische Leitlinien. Frauen nehmen einen großen Platz ein, auch in der diesjährigen Retrospektive, die die Ägypterin Yousra in den Mittelpunkt stellt, eine der bekanntesten arabischen Schauspielerinnen der Gegenwart.
Christopher Resch
© Goethe-Institut 2015