Blinder Fleck auf der Wissenschaftslandkarte
Westliche Fernsehzuschauer kennen arabische Jugendliche vor allem als Teilnehmer von wütenden Protestmärschen, bei denen wahlweise Papst-Puppen oder die Fahnen westlicher Staaten verbrannt werden.
Arabische Jugendliche treten ansonsten als Geiselnehmer, Terroristen oder womöglich als Kofferbomber in das Bewusstsein der Öffentlichkeit; vielleicht auch noch als perspektiv-, arbeits- und hoffnungslose Opfer diktatorischer Regierungen. Kurz: Jung und Arabisch. Das klingt nach Problem.
Dabei wissen wir recht wenig darüber, wie diese jungen Menschen leben. Immerhin sind 70 Prozent der Bevölkerung zwischen Casablanca und Fudschaira unter 35 Jahre alt.
Das ist die erste Erkenntnis, die Leser des Sammelbandes "Changing Values amoung Youth – Examples from the Arab World and Germany", herausgegeben von Sonja Hegasy und Elke Kaschl, mitnehmen: Die arabische Jugend ist ein weitgehend blinder Fleck auf der Wissenschaftslandkarte.
Dies gilt nicht nur für die westliche Sozial- und Orientforschung. Der Sammelband schlägt die Brücke zu den arabischen Wissenschaftskollegen, und die sind nicht sehr viel weiter.
Keine arabische Shell-Studie
Hervorgegangen ist das Buch aus einer Konferenz, welche die Herausgeberinnen im Sommer 2005 in Kairo organisierten. Wissenschaftler, vor allem aus der arabischen Welt, aber auch aus Europa und den USA, trugen ihren Wissensstand zusammen.
Dabei wird viel geforscht und das Thema gilt als wichtig: Arabische Regierungen interessieren sich nicht erst seit den Anschlägen des 11. September 2001 dafür, was ihre Untertanen denken und wie man sie besser kontrollieren kann.
In der westlichen Orientforschung, die ja zumindest in ihrer neuzeitlichen Orientierung gerne Moden folgt, bekommt die Jugendforschung derzeit besonderen Rückenwind. Trotz dieser Aufmerksamkeit ist man von einem Wissenstand, der etwa mit dem der regelmäßig in Deutschland erscheinenden Shell-Jugendstudie vergleichbar wäre, weit entfernt.
Dies wird auch dem Leser des Sammelbandes klar, denn die neun Aufsätze über die arabische Welt werden mit einem zehnten Aufsatz kontrastiert: Richard Münchmeier fasst dort die Ergebnisse und das Forschungsdesign der 13. Shell-Jugendstudie zusammen. Das ist eine andere Galaxie der Wissenschaft.
Arabische Jugendforschung in den Kinderschuhen
Die Gründe dafür, dass die Jugendforschung in der arabischen Welt noch so in den Kinderschuhen steckt, werden dem Leser von Artikel zu Artikel klarer. Die Aufsätze konzentrieren sich auf die wissenschaftliche Methode, das Forschungsdesign der verschiedenen Untersuchungen. Eher nebenbei erfährt der Leser – und sehr unterschiedlich aufschlussreich – die Forschungsergebnisse.
Anja Wollenberg, die über Monate im Jahre 2004 ein Internet-Radio-Projekt für irakische Jugendliche aus Berlin geleitet hat, gibt interessante Einblicke in das Leben ganz normaler irakischer Jugendlicher.
Natürlich hinkt die Studie wissenschaftlich: Die Interviewten sind weder repräsentativ ausgewählt noch wurden sie systematisch interviewt, und die Autorin selbst hat Zweifel an der Ehrlichkeit der Antworten der Jugendlichen – schließlich wurden sie live on Air befragt.
Doch: Es sind seltene, wertvolle Daten. Bessere liegen nicht vor, denn die dramatische Lage im Irak erlaubt kaum Forschung.
Brandenburg und Palästina
Das Team um Hans Oswald, Bernard Sabella, Hilke Rebensdorf und Hans Peter Kuhn, das das Interesse von Jugendlichen an Politik untersucht, stößt bei seinen Untersuchungen ebenfalls an Grenzen. Sie vergleichen zwei Gesellschaften, die sich an einem ähnlichen Punkt in ihrer Geschichte befinden: Brandenburg und Palästina, jeweils am Vorabend der ersten demokratischen Wahl in der neueren Geschichte.
Während sie jedoch in Brandenburg 2633 Jugendliche in einer Langzeitstudie über drei Jahre mehrmals befragten, wurde ihnen in Palästina die Genehmigung, an staatlichen Schulen zu forschen, verweigert, und sie mussten ihr Sample drastisch verkleinern.
Im folgenden Artikel beschreibt Katharina Lange, die eine qualitative Befragung von Jugendlichen eines syrischen Dorfes gemacht hat, ihr Forschungsdesign. Da geht es um Vertrauen und Respekt, den sich die Wissenschaftlerin erwerben musste.
Jugend in Ägypten
Der nachfolgende Artikel von Sahar El-Tawila ist in anderer Hinsicht aufschlussreich. Sie wirft ein Licht auf die Realität staatlich beauftragter Jugendforschung.
In einer breit angelegten Erhebung wurden 1997 die Lebensverhältnisse Jugendlicher in Ägypten untersucht. Gefragt wurde nach Einkommen, Bildung und ihrem Verhältnis zu Partnerschaft und besonders zu der inzwischen weit verbreiteten nicht registrierten Ehe (Orfi).
Die Teilnehmer der Studie, die nach repräsentativen Kriterien ausgewählt wurden, mussten sich zudem einem medizinischen Check unterziehen. Der Artikel von El-Tawila listet genau auf, wie viele Jugendliche, die zur Befragung ausgewählt wurden, nicht an der Studie teilnahmen und mit welchen Entschuldigungen sie sich den Interviewern entzogen.
Farag Elkamel hingegen hat mit seinem Team Gruppeninterviews mit Jugendlichen ebenfalls in Ägypten gemacht und beschreibt das große Misstrauen, das Jugendliche sowohl ihren Eltern als auch den Repräsentanten des Staates gegenüber hegen.
Rania Salems Artikel beschreibt einen weiteren Aspekt der Jugendforschung. In ihrer Studie geht es darum, die Wirkung und den Erfolg eines Förderprogramms für Mädchen in ländlichen Gebieten in Ägypten zu untersuchen.
Neue Impulse
Weiter geht es mit Marokko. Sonja Hegasy hat die Einstellung Jugendlicher zum neuen König untersucht. Woher bezieht er seine Legitimität? Sie hat von vornherein darauf verzichtet, eine Forschungsgenehmigung zu beantragen und die 622 Fragebögen wurden 2003 unter persönlichem Einsatz engagierter Interviewer ausgefüllt - staatliche Repression eingeschlossen.
Mokhtar El-Harras hat sich ebenfalls mit Marokko beschäftigt, und sein Artikel erlaubt einen interessanten Blick auf das, was oft als Hauptunterschied zwischen Jugendlichen diesseits und jenseits des Mittelmeers empfunden wird: Den Individualismus und die Bindung an die Familie.
Obwohl die Lektüre des Sammelbandes die Wissenslücke – wie leben arabische Jugendliche – nicht schließen kann, so gibt er die Gründe an, wieso dies so ist. Es gibt wenige neuere Bücher die so präzise und facettenreich die Realität der Sozialwissenschaften in der arabischen Welt beleuchten.
Besonders interessant: Hier wird ein Schlaglicht auf einen Prozess geworfen, der in Bewegung ist, und der Sammelband, der zugleich in englischer und arabischer Sprache vorliegt, wird dem Prozess, den er beschreibt, sicherlich Impulse geben. Das ist zumindest zu hoffen.
Julia Gerlach
© Qantara.de 2007
Changing Values amoung Youth Examples from the Arab World and Germany. Edited by Sonja Hegasy and Elke Kaschl. ZMO Studien 22 Klaus Schwarzer Verlag. Berlin 2007
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