Aufstand der Marginalisierten
Am 29. Mai wurde der prominente Aktivist und Regimekritiker Nasser Zefzafi im nordmarokkanischen El-Hoceima festgenommen. Seitdem vergeht dort wohl kaum ein Tag ohne Demonstrationen. Die Behörden werfen dem 37 Jahre alten de facto-Rädelsführer der mehr als sieben Monate andauernden Proteste in der strukturschwachen Rif-Region vor, in einer Moschee die freie Religionsausübung behindert zu haben. Er hatte dem Imam während der Freitagspredigt vehement widersprochen, als dieser den Protestierenden vorwarf, die Nation spalten zu wollen.
Die Protestserie in Marokko begann allerdings schon im vergangenen Oktober nach dem Tod des Fischhändlers Mohsin Fikri. Polizeibeamte konfiszierten damals den Tagesfang des Fischhändlers und warfen ihn in einen Müllwagen. Als Fikri hinterher sprang um seinen Fang zu retten, soll einer der Beamten auf Arabisch gerufen haben: "Than mu" ("Zerquetsch' seine Mutter"). Fikri wurde schließlich in der Müllpresse zu Tode gequetscht, was in Marokko schließlich die wohl größte Protestwelle seit dem "Arabischen Frühling" 2011 auslöste.
Obwohl die Demonstrationen zwischenzeitlich abebbten, wurde innerhalb der marokkanischen Zivilgesellschaft seitdem kontinuierlich weiter mobilisiert. In öffentlichen Graswurzel-Debatten entwickelte man ein politisches Programm, welches Forderungen nach allgemeinen Sozialleistungen wie Bildung und medizinischer Versorgung, sowie die Freilassung politischer Gefangene, beinhaltet. Mittlerweile ist die Protestwelle weit über den Rif hinaus zu einer "Volksbewegung" angewachsen. "Hirak El-Shaabi" heißt sie und zeugt von einem umfangreichen Bewusstsein für politisches Empowerment und kulturelle Identität in Marokko.
Der Rif als postkoloniale Utopie
Das die Proteste im Rif ihren Ausgang nahmen, ist kein Zufall. Bis heute ist die Region eine Projektionsfläche für antikoloniale Ambitionen und das Recht auf Selbstbestimmung weiter Teile der Bevölkerung. 1921 schlug hier eine kleine Armee von Widerständlern die Streitkräfte der spanischen Protektoratsmacht. Zwei Jahre danach entstand unter der Führung des Nationalhelden Abdelkrim El-Khattabi, der auch jetzt wieder ein Symbol der Proteste ist, vorrübergehend ein eigenständiger, zentral organisierter Staat.
Als Marokko 1956 unabhängig wurde, übernahm die neue Regierung die administrativen Strukturen der Kolonialregime. Die durch letztere geförderte Identitätspolitik zur "Betonung ethnischer Differenzen" zwischen Berbern und Arabern, wurde fortgeführt. Prozesse der Entscheidungsfindung wurden nun, anders als noch vor der Kolonisierung, in erster Linie zwischen dem König und den nationalistischen, urbanen und arabischen Eliten von "oben" verhandelt. Die politische Autonomie einzelner Regionen wie dem Rif ging so verloren. Auf die nachfolgenden Proteste reagierte die Monarchie auch schon damals mit Repressionen.
Besonders in der Peripherie resultierte hieraus eine strukturelle Benachteiligung der indigenen, nicht-arabischen Bevölkerung, welche die Menschen bis heute mobilisiert. Sie brachte überproportionale Armut, einen hohen Bevölkerungsdruck, die Entstehung kriminalisierter Schattenwirtschaften und die legale sowie illegale Migration nach Europa mit sich. In den 1960er Jahren profitierte auch die Bundesrepublik Deutschland von der Strukturschwäche und der Perspektivlosigkeit der Region und warb gezielt "Gastarbeiter" aus dem Rif für die Mitarbeit am deutschen Wirtschaftswunder an.
Ökonomische Ausbeutung auf Kosten der Umwelt
Seit Beginn der 1990er Jahre wurden im Rahmen neoliberaler Umwälzungen zunehmend Ländereien und öffentliche Dienste privatisiert, an europäische Investoren verkauft und die Bevölkerung, besonders in der Peripherie, so zusätzlich prekarisiert. Oft gehen solche Entwicklungen mit massiven Eingriffen in Marokkos natürliche Ökosysteme einher: angefangen bei der Plünderung von Jagdgründen entlang der Küste durch europäische Fischereikonzerne, über den Landraub und –verkauf an ausländische Unternehmen bis hin zu Wasser- und Luftverschmutzung.
In Imider, einem kleinen Dorf 300 Kilometer südlich von Marrakesch, findet gegen diese Politik einer der längsten Sit-Ins der regionalen Geschichte statt. Seit August 2011 wehren sich die Anwohner gegen die ökologischen Folgen der größten Silbermine Afrikas. Auf Grund ihres enormen Wasserverbrauchs wurden viele der für den Ackerbau notwendigen Brunnen in der Gegend trockengelegt. Auch giftige Chemikalien sind in das Grundwasser gelangt und gefährden den Anbau. Auch in Imider hat man sich mit der Bewegung "Hirak El-Shaabi" solidarisiert.
Indes inszeniert sich Marokko als umweltbewusster und zuverlässiger Partner für die Umsetzung westlicher Entwicklungsprojekte. Im letzten November fand der jährliche Weltklimagipfel COP22 in Marrakesch statt. Es wird in Prestigeprojekte investiert wie etwa in das größte thermische Solarkraftwerk der Welt oder die erste grüne Moschee des Landes. "Greenwashing" wird ein solcher Diskurs genannt, denn Marokkos Bevölkerung profitiert davon mittelfristig nicht.
Die Amazigh-Frauen – zwischen Ethnozentrismus und Patriarchat
Auch die Gender-Dimension der Proteste ist nicht zu unterschätzen. Zu den zentralen Leitfiguren der Bewegung gehört Nawal Ben Aissa, die seit Jahren, insbesondere in den ländlichen Rif-Regionen, Frauen mit Krebserkrankungen unterstützt. Viele Amazigh-Frauen leben heute abseits der urbanen Zentren in abgeschiedenen und strukturschwachen Regionen des Landes ohne adäquaten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. In den meisten Fällen können sie weder lesen noch schreiben, sprechen kein Arabisch oder Französisch und können so kaum auf ihre Probleme aufmerksam machen.
Tamazight, ein sowohl eigener Dialekt als auch Oberbegriff für die in Marokko gesprochenen Berberdialekte, wurde 2011 zwar offiziell als zweite Amtssprache anerkannt, wirklich umgesetzt wurde das Gesetz jedoch nie. Daher hat sich auch kaum etwas an den Lebensverhältnissen dieser Frauen geändert. Sie leiden nicht nur unter den Folgen ökonomischer, ökologischer und patriarchaler Gewalt. Wo Arabisch im öffentlichen Raum weiterhin die dominante Kultur darstellt, sind sie zudem noch ihrer politischen Stimme gänzlich enthoben. "Frauengruppen reden immer von der 'arabischen Frau', aber "wir haben eine Amazigh-Kultur, -Sprache und -Identität", meint Amina Zioual, Vorsitzende von The Voice of the Amazigh Women.
Berberfrauen befinden sich in Marokko an der Schnittstelle unterschiedlicher Diskriminierungsformen und auch deshalb solidarisieren sie sich mit der Bewegung "Hirak El-Shaabi". Als vergangenen Monat die Proteste in El-Hoceima von ihnen angeführt werden sollten, versuchten Sicherheitskräfte zunächst, sie davon abzuhalten, bevor sie die Proteste mit Gewalt auflösten.
#FreeKoulchi – Freihet für Marokkos politische Gefangene
Die "Hirak"-Proteste richten sich gegen die sowohl ökonomischen als auch ökologischen Folgen neoliberaler Politik sowie gegen eine ethnozentrische Politik, welche die regionale Integrität zersetzt und die lokale Identität zerstört. Zwischen El-Hoceima im Norden und Imider im Süden geht es darum, die Peripherie zu demokratisieren. Und es geht um die Deutungshoheit über die (post)koloniale Geschichte Marokkos und auf welche Weise diese die politische Gegenwart informiert.
Mittlerweile haben die Proteste auch die Zentren der marokkanischen Elite, wie Rabat und Casablanca, erfasst. Über 100 führende Mitglieder der Bewegung wurden bereits festgenommen. Mindestens 25 von ihnen erhielten Haftstrafen von 18 Monaten Gefängnis.
Viele der Akteure, die bereits 2011 an den Protesten gegen das politische System Marokkos beteiligt waren, organisieren sich heute bewusst in einem dezidiert unpolitischen Rahmen – oder geben dies zumindest vor. Ihre Legitimität beziehen sie daher nicht aus einem bestimmten politischen Programm, sondern vor allem aus ihren gemeinsamen Protesterfahrungen mit der Staatsmacht.
Mohamed Lamrabet
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