Strich durch die Rechnung
Es begann mit den steigenden Temperaturen während der Sommermonate und zunehmenden Stromausfällen, die die Klimaanlagen zum Erliegen brachten. Hinzu kamen die tief verwurzelten strukturellen Probleme des politischen Systems in der Post-Saddam-Ära. So wurde der August zum Monat der Proteste gegen die Korruption, die mangelhaften öffentlichen Dienstleistungen, das Sektierertum der politischen Klasse und die fehlende Umverteilung des Wohlstands. Diejenigen, die in diesem Monat auf die Straße gingen, gehörten jedoch nicht etwa der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an, sondern vor allem der schiitischen. Lautstark demonstrierten sie vor allem in den Straßen von Bagdad, Kerbala, Najaf, Nasiriya und Basra.
Die Bemühungen von Ministerpräsident Haider al-Abadi und die Anfang August eingeführten Reformen hatten zunächst den Beifall Tausender Iraker gefunden. Doch der Reformeifer ließ rasch nach, die Regierung ermüdete angesichts der islamistischen Offensiven des "Islamischen Staates" und der anhaltenden politisch-institutionellen Pattsituation. Seit Jahren steht der Irak an der Spitze der unrühmlichen Liste der Länder mit der höchsten internen Korruptionsrate, was in Kombination mit dem stockenden Wiederaufbau des Landes zweifelsohne der Propaganda der Dschihadisten in die Hände spielt.
Aus den jüngsten Protesten hat sich mittlerweile eine spontane Protestbewegung gebildet, die bislang noch auf einige irakische Städte beschränkt geblieben ist. Diese neue Bewegung besteht aus vielen verschiedenen Teilen der irakischen Gesellschaft, darunter säkulare und religiöse Organisationen bis hin zu Individuen, Liberale und Kommunisten. Sie ist eine Bewegung, die nur mit einem Banner in Erscheinung tritt, nämlich der irakischen Nationalfahne.
Blockierter Wandel
Was das Bedürfnis nach Veränderung jedoch bremst, ist die gegenwärtige irakische Regierungspolitik mit ihrem Nepotismus und ihren eigenen Machtinteressen. Diese Faktoren stellen eine unsichtbare Barriere dar, durch die das Land blockiert wird und die angekündigten Reformen von Ministerpräsident Al-Abadi ausbremst. Im Gegensatz zur bekanntermaßen nepotistischen Politik seines Vorgängers Nuri al-Maliki hatte Al-Abadi seit über einem Jahr Transparenz und Ehrlichkeit zum Mantra seiner Regierung erklärt. Im Moment jedoch scheinen all diese Reformversprechen vergebens gewesen zu sein – bedingt durch die islamistische Invasion eines Drittels des Landes und den Widerstand der vielen versteckten Machtzentren im Irak.
Die jüngst erfolgte Ankündigung, die Grüne Zone in Bagdad zu öffnen, ist wohl eher symbolischer Natur. Die Aufhebung der Sperrung einer über zehn Jahre lang abgeriegelten Sicherheitszone soll die Befehlsgewalt der Zentralregierung verdeutlichen, die zwischen mehr oder weniger antagonistischen politischen und paramilitärischen Gruppen gefangen ist. Doch geht es bei diesem Schritt auch um ein konkretes Ziel, da in der Grünen Zone die ausländischen Botschaften (darunter auch die US-amerikanische Botschaft), die Büros der Regierung und des Militärs sowie das Parlament liegen.
Die Entscheidung erfolgte nach der Billigung des Reformpakets des Ministerpräsidenten durch das Parlament und umfasst die Schließung eines Drittels der Ministerien, die Entlassung vieler stellvertretender Minister und Staatssekretäre, die Abschaffung der schlimmsten bürokratischen Regelwerke im Machtzentrum, größere Transparenz bei der Verwaltung der Staatsmacht, den Kampf gegen Korruption und die Unterstützung gerichtlicher Untersuchungen.
Diese Entscheidungen sind zwar zweifelsohne mutig, doch das interne Machtgefüge dürfte dadurch nicht viel Veränderung erfahren, zumal sich die parlamentarische Mehrheit mit 52 Prozent der Sitze fest in den Händen der Schiiten befindet. Die Kurden halten nur 17 Prozent und die Sunniten 21 Prozent der Sitze.
Proteste mit politischer Sprengkraft
Die jüngsten Proteste bergen eine gewaltige politische Sprengkraft – Proteste, denen die westlichen Massenmedien bislang jedoch nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Widerstandsbewegung ist populär und antisektiererisch. Sie umfasst aber dennoch Elemente, die potenziell spaltend wirken könnten: Da ist zunächst die berüchtigte Miliz des bekannten schiitischen Religionsführers Muqtada al-Sadr, der in den letzten Wochen seine Brigaden um sich geschart hatte. Oder die ehemalige Mahdi-Armee, die während der US-Besatzung in der Post-Saddam-Ära für viel Unruhe sorgte. Nach den Freitagsgebeten hatten sich zuletzt in Bagdad Hunderte Unterstützer der Al-Sadr-Miliz unter Tausende von Demonstranten gemischt und der irakischen Flagge dadurch eine religiöse Konnotation hinzugefügt. Dass die Miliz versuchte, die Proteste an sich zu reißen, wurde allerdings von der Basisbewegung und ihren politischen Aktivisten bislang verhindert.
Während seiner Rede in Najaf vom 24. August hatte Muqtada al-Sadr erklärt: "Alle Menschen und alle Sadristen müssen an der Demonstration an den Freitagsdemonstrationen in Bagdad teilnehmen. Die Sadristen müssen sich den anderen Demonstranten als eine geschlossene, nationale irakische Gruppe anschließen." Durch die Dominanz einer Massendemonstration würde die Rolle der Miliz mit Tausenden Mitgliedern weiter gestärkt – einer Miliz, die im Gegensatz zu vielen anderen schiitischen Milizen auf Distanz zur Führung in Teheran geht, die aus ihrem Bestreben, den politischen und militärischen Einfluss über Bagdad auszuweiten, kein Geheimnis macht.
Schiitische Parteien im Zwiespalt
Auch die schiitischen politischen Parteien versuchen, ihren Einfluss auf die Protestbewegung zu vergrößern, wobei sie sich im Zwiespalt befinden, ob sie die Demonstrationen fördern oder ersticken sollten. In beiden Fällen liegt das Ziel auf der Hand: Die schiitische Strömung will verhindern, dass durch die Proteste ihre eigenen Machtinteressen in Frage gestellt werden.
Vor den Folgen dieser Entwicklung warnte jüngst auch der einflussreichste religiöse Führer des Irak, Ajatollah Ali al-Sistani. Obwohl er allgemein öffentliche politische Statements meidet, hat Al-Sistani Ende August die Bemühungen Haider al-Abadis unterstützt und vor möglichen Gefahren durch die vielen internen Machtzirkel im Irak gewarnt.
Derzeit existieren viele politische Gruppen im Irak, die darauf abzielen, die Grundlagen des Reformprogramms von Al-Abadi zu unterminieren. Viele versuchen auch, das momentane Chaos vor dem Hintergrund des IS-Terrors zu nutzen, das bereits vorhandene interne Sektierertum noch zu verstärken und eine Fragmentierung des Irak in ethnische Gruppen und Religionen herbeizuführen. Gewiss wäre dies im Sinne derjenigen, die sich bereits seit geraumer Zeit für das Ende der nationalen Einheit und die Etablierung kleiner Bundesstaaten einsetzen, die dann leichter zu kontrollieren wären.
Chiara Cruciati
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff