Die späte Rache der Wüste
Wenn es einem nicht so peinlich wäre, würde man es eine Verschwörung nennen. Es ist aber tatsächlich eine, und keine Scham und auch nicht die momentane Mode, Verschwörungstheorien zurückzuweisen, werden mich davon abhalten, die Dinge beim Namen zu nennen.
Es ist aber nicht einfach eine amerikanische Verschwörung, wie manche Naiven glauben, und auch keine israelische, wie wir gern behaupten würden, sondern eine arabische. Wir Araber haben uns gegen uns selbst verschworen, und wir sollten uns dies zunächst eingestehen, um uns dann das Recht nehmen zu können, über die Mitverantwortung anderer zu sprechen.
Die arabischen Monarchien des verordneten Schweigens, zu denen auch die Erbrepubliken von Syrien über Ägypten, Irak, Libyen bis nach Tunesien und Jemen gehörten beziehungsweise gehören, sind ein Produkt von Parteien, Armeen und Landeseliten, die sich während des Kalten Krieges auf den Trümmern der Freiheit erhoben, die es verstanden, die Niederlage gegen Israel für sich zu nutzen und unter denen Korruption und Konfessionalismus epidemisch wurden.
Statt die versprochene soziale Gerechtigkeit zu schaffen, zerstörten sie die Mittelschichten, machten die Armen noch ärmer, zerstörten moralische Werte und hinterließen eine jedem Angriff schutzlos ausgesetzte Gesellschaft.
Die Petrodollar-Prostitution
Die nominellen Monarchien am Golf ihrerseits schufen mit ihren Öleinnahmen ein System der Prostitution, das alle Lebensbereiche erfasste – von der körperlichen Prostitution bis zur politischen, von der Presse über die Kultur bis hin zum Sport. An die Stelle von Sauerstoff trat Gas, das den Verstand vergiftete, und alle verneigten sich vor den Worten von Hand- und Halsabschneidern.
Als die beiden ungleichen Arten arabischer Monarchien in einer saudisch-ägyptisch-syrischen Achse zusammenfanden, verbreitete sich ein rückwärtsgewandtes Denken wie Feuer auf einer Benzinlache. Von Algerien bis Ägypten kam es in Mode, sich den Glaubenskämpfern in Afghanistan anzuschließen, sich "islamisch" zu kleiden und Salafistenbärte zu tragen, bis uns diese Mode um die Ohren flog, als das arabische Staatensystem nach dem Ende des Kalten Krieges zusammenbrach.
Die irakische Baath-Partei ließ unter Saddam Hussein ein "Allahu akbar" auf die Landesflagge setzen, während ihre Schwesterpartei in Syrien aus Syrien einen Sammelpunkt für Al-Qaida-Kämpfer machte, die von dort in den Irak zogen. Saudi-Arabien und Qatar versteckten sich hinter der Parole des "Schutzes für die Sunniten". Aber statt der repressiven Ölmonarchien des Schweigens, die sich als Alternative darboten, kamen Vertreter eines noch radikaleren Wahhabismus, die Menschen abschlachten, kreuzigen oder enthaupten.
Das Scheitern der demokratischen Kräfte
Ohne die Dinge vereinfachen zu wollen, lässt sich feststellen, dass der Wendepunkt zur heutigen Situation einsetzte, als die demokratischen Kräfte der arabischen Revolutionen daran scheiterten, den politischen Übergang in ihren Ländern zu steuern. Sie scheiterten aus vielfältigen Gründen, und die Brutalität der Regime war beileibe nicht der einzige. Neben dieser nie dagewesene Brutalität gegen die Volksaufstände, bei der sich vor allem das syrische Regime in wahrhaft faschistischer Weise hervortat, trat eine politische und kulturelle Kurzsichtigkeit bei jenen Eliten zu Tage, die sich zur Führung der Volksbewegungen aufschwangen, ohne ihnen gewachsen zu sein und die sich zwei Illusionen hingaben:
Dass die arabischen Monarchien des Schweigens die Aufstände unterstützen würden, zunächst über ihre Pressekanäle, später finanziell und militärisch. Was sie damit tatsächlich erreichen wollten, war, die Islamisten zu bewaffneten Kämpfen anzustiften. In Syrien führte dies zur Zerschlagung der Freien Syrischen Armee und zur Auflösung der vorherigen Opposition.
Die zweite Illusion bestand darin, dem globalisierten neoliberalen Diskurs Gehör zu schenken und zu glauben, Europa und die USA würden den Arabischen Frühling als eine Fortsetzung des Osteuropäischen Frühlings betrachten und ihn entsprechend unterstützen. Die NATO würde es schon richten, so wie anfangs in Libyen. Weit gefehlt!
Durch diese beiden Fehlkalkulationen liefen die arabischen Länder in die Falle des sunnitisch-schiitischen bzw. iranisch-saudischen Konflikts. Zugleich wurde das Militär zum einzigen Hoffnungsträger zur Abwendung eines Bürgerkrieges oder eines Kalifats – wie etwa in Ägypten, wo das Militär, getragen von einer Welle der Frustration über die ausbleibende Veränderung, sich des ganzen Landes bemächtigen konnte.
Die Wegbereiter des Islamischen Staates
All das zusammen ebnete jenem bizarren Geschöpf namens "Islamischer Staat" den Weg, einer Miliz, die offen ausspricht, dass sie keine Veränderung will, sondern stattdessen alptraumhafte Brutalität.
Der IS ist ein Kind des späten Kalten Krieges und zugleich der Beginn eines totalen Krieges gegen die Länder des arabischen Ostens. Bewaffnete treten wie Monster aus dem Dunkel der Gegenwart hervor. Ihr Schrei ist eine Mischung aus krimineller Besessenheit und Blutdurst und einer Sehnsucht nach der Wiedererrichtung jenes islamischen Kalifats, das die Osmanen vor fünf Jahrhunderten von den Arabern übernommen hatten, bevor es am Ende des Ersten Weltkriegs zerfiel.
Der IS ist die späte Rache der Wüste und ein Racheschrei angesichts des Zusammenbruchs politischer, moralischer und sozialer Werte – ein Zerfall, der unsere Länder zu Geiseln in den Händen mafiöser Offiziere und unsere Frauen zu Lustsklavinnen der Diktatur und ihres Gefolges gemacht hatte.Man frage einmal Frauen im Irak, in Syrien oder Libyen, wie sie von den dort damals herrschenden Banden entführt und vergewaltigt wurden – schon Jahrzehnte bevor ein Kalif Baghdadi und seine Krieger zum Abschlachten und zur Versklavung aufriefen. Die Kalifatsarmee ist nur ein neues Kapitel dieses Verfalls und führt zu Ende, was die vorigen Diktaturen noch nicht zustande gebracht hatten.
Militärisch wird der IS nicht zu besiegen sein, was immer man sagen mag über intelligente Luftschläge oder den türkischen Traum, die Region wie früher zu dominieren. Man mag den IS schwächen oder vielleicht aus der einen oder anderen Stadt vertreiben können. Doch das ändert nichts daran, dass diese Terrororganisation ein Ausdruck der kompletten Verzweiflung in den Ländern ist, in denen er sich eingenistet hat.
Diese Verzweiflung geht zurück auf die Niederlage gegen Israel 1967, den Tod des damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser und darauf, dass andere, ihm nacheifernde arabische Präsidenten zu Mördern und Dieben wurden.
Es ist eine Verzweiflung, die daraus erwuchs, dass die arabischen Regime die Wunde Palästina dem Vergessen überantwortet hatten und dass der islamische Fundamentalismus, der sich als Alternative zum Nasserismus darstellte, sie dazu brachte, sich den Amerikanern in Afghanistan als Vasallen anzudienen.
Kampfflugzeuge können Verzweiflung nicht besiegen, sondern nur vertiefen und erneuern. Der Krieg gegen den IS wird nirgendwohin führen, sondern die Region nur weiter fragmentieren, ihre Minderheiten zerstören und Millionen arabische, kurdische und jesidische Flüchtlinge zu Markenzeichen einer schwarzen Epoche machen.
Wie können wir dem IS-Reich entgegentreten?
Der Widerstand beginnt damit, dass wir uns bewusst werden, dass wir es mit einem neuen Kapitel der Tyrannei zu tun haben, das sich vom vorherigen nur in den zur Schau getragenen religiösen Parolen unterscheidet.
In der blutigen Auseinandersetzung, die vor uns liegt, bleibt uns nur die Option, an den Werten von Freiheit und Gerechtigkeit festzuhalten und ihnen konkrete Bedeutung zu verleihen. Wir dürfen nicht weiter auf eine Rettung warten, die nicht kommen wird. Das arabische System der Tyrannei wird uns ebenso wenig retten, wie Amerika sich um unsere Schmerzen schert.
Es ist ein Kampf menschlicher Werte gegen die Barbarei, und dieser Kampf wird lange dauern. Wir müssen ihn als Einzelne wie als Gemeinschaft in dem Bewusstsein dessen führen, der aus seiner Verzweiflung ein Fenster der Hoffnung macht.
Elias Khoury
Aus dem Arabischen von Günther Orth
© Qantara.de 2014