Die Kurden haben den Pfad der Demokratie verlassen
Superwahljahr 2024: Die halbe Welt geht zu den Urnen. Indien, das bevölkerungsreichste Land der Welt, wählt, in Algerien und Tunesien finden Wahlen statt, genauso wie in Großbritannien, Frankreich, Österreich und der gesamten EU. Die Liste ist lang. Überall sind Wahlen ein Thema, werden Fairness und Glaubwürdigkeit erörtert, Betrug und Manipulation diskutiert.
Nur im kurdischen Teil Iraks sind Wahlen kein Thema und die Verantwortlichen tun alles, damit das auch so bleibt. Seit zwei Jahren ist das Mandat der kurdischen Regionalregierung abgelaufen, doch Wahlen werden immer wieder verschoben. So auch jetzt. Nur einen Monat vor dem vorläufig letzten angesetzten Wahltermin am 10. Juni wurde der Urnengang erneut abgesagt. "Wer braucht schon Wahlen hier", witzelt ein ranghohes Mitglied der Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) in Erbil. "Wahlen, was ist das?", frotzeln Studenten der Kurdischen Universität Hewler (KUH) in der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan.
"Wahlen in Kurdistan sind ein Schönheitsfehler", bringt Thomas Schmidinger, außerordentlicher Professor an der KUH, die Lage auf den Punkt. Der Österreicher ist an der Hochschule Dozent für Politik und Internationale Beziehungen und lebt seit Jahren in Irak-Kurdistan. Das Autonomieparlament habe nichts zu sagen. "Hier regieren zwei Dynastien". In den Provinzen Erbil und Dohuk ist der Barzani-Clan an der Macht, in Suleimanija sind es die Talabanis. Die beiden Familien würden alles untereinander ausmachen.
Kurdistan in der Krise
Die jetzt aufkommenden Oppositionsparteien würden das Machtgefüge stören. Davor hätten beide Familien Angst. Seit Oktober 2022, als der erste reguläre Wahltermin angesetzt wurde, hören die Konflikte zwischen den Parteien nicht auf. Mal wollen die einen und mal die anderen nicht an den Wahlen teilnehmen. Institutionelle Querelen wie der neuerliche Streit über die Wahlkommission dienen als Vorwand für die Verschiebungen.
Irak-Kurdistan, die drei Autonomieprovinzen im Nordosten Iraks, das Vorzeigeprojekt für Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung, ist tief in die Krise geraten. Seit 2013 geht es bergab, seit zwei Jahren herrscht Stillstand. Während es im Rest Iraks gerade mächtig aufwärts geht, stürzt Kurdistan immer weiter ab.
Als Grund dafür werden von offizieller Seite die Terrormiliz IS, die Pandemie und Bagdad angeführt. Die Politiker in der irakischen Hauptstadt seien den Kurden nicht wohlgesonnen. Manche meinen gar, Bagdad und Erbil verbinde eine tiefe Feindschaft. Ähnlich wie zu Zeiten Saddam Husseins, der die Kurden bekämpfte, weil sie immer wieder gegen ihn aufstanden.
Jetzt allerdings ist ein neues Narrativ hinzugekommen, das für die Misere in Kurdistan verantwortlich sein soll: Hört man sich um in Erbil, ist das Nachbarland Iran an allem schuld. Der Iran wolle die Kurden schwächen, besonders der KDP um den Barzani-Clan, heißt es.
Dass nun der Feind Nummer eins der Kurden nicht mehr in Bagdad, sondern in Teheran sitzt, hat seinen Grund. Seit dem Massaker der Hamas an Israelis und dem darauffolgenden Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober häufen sich die Raketen- und Drohnenangriffe auf Ziele in Irak-Kurdistan. Der Flughafen in Erbil ist bereits mehrere Male angegriffen worden, Wohnhäuser von einflussreichen Kurden in der Nähe von Erbil wurden bombardiert und zerstört, Zivilisten getötet. Iran beschießt seine Nachbarn.
Doch diese Sichtweise greift zu kurz. Ein kurdischer Analyst, der namentlich nicht genannt werden will, steigt tiefer in die Analyse der für die Kurden prekären Situation ein. Er hält die jetzige Krise für systemimmanent. Die Zentralregierung in Bagdad sei nicht gewillt, eine Dezentralisierung voranzutreiben, so wie es in der Verfassung stehe und wie die Kurden es reklamierten. Föderalismus, der als politisches System Iraks festgeschrieben sei, existiere nur auf dem Papier. Das sehe man auch an dem Beispiel der Provinzen Basra und Anbar, die ebenfalls einen Autonomiestatus wie die Kurden anstreben, was Bagdad vehement ablehnt.
Die westlichen Partner schweigen
Deshalb seien Wahlen in Kurdistan nicht dasselbe wie anderswo. Gleichwohl, so der Analyst weiter, würden die westlichen Partner, denen sich die Kurden verbunden fühlten, die Wahlen zum Regionalparlament als innerirakische Sache betrachten und deren Durchführung nicht genug anmahnen. Wenn amerikanische, britische, französische und auch deutsche Staatsoberhäupter in Erbil Hände schütteln und Bagdad ignorieren, trüge dies nicht zur Verständigung bei, sondern würde die Kurden – und hier vor allem die KDP des Barzani-Clans - darin bestätigen, machen zu können, was sie wollten.
Die KDP wurde so zur mächtigsten Partei Kurdistans. Während sich die PUK (Patriotische Union Kurdistans) des Talabani-Clans in Suleimanija mit Bagdad verständigen wolle, lehne die KDP in Erbil dies ab. "Eigentlich haben wir eine Übergangsregierung, da die Legislaturperiode abgelaufen ist, aber jeder erkennt sie als vollwertig an. Warum also Wahlen, wenn die Legitimität auch anders gegeben ist?", fragt er.
Dabei waren die Ansätze zur Entwicklung demokratischer Strukturen in Kurdistan durchaus vielversprechend und Kurdistan wurde so zur Vorzeigeregion im Irak. Während im Rest des Landes Terror und Bürgerkrieg tobten, konnten sich die drei Autonomieprovinzen im Nordosten prächtig entwickeln. Ein Investitionsboom jagte den anderen, die Region prosperierte.
Als 2017 der IS besiegt war, regte der damalige Präsident der Kurdenregion, Masoud Barzani, ein Referendum über ein unabhängiges Kurdistan an. Eine überwältigende Mehrheit der Kurden stimmte damals für die nationale Unabhängigkeit der Kurden. Nur hatte Barzani weder seine Nachbarn noch andere Länder um deren Meinung gefragt. Am Ende lehnten selbst die USA, engste Verbündete der Kurden, einen eigenen Kurdenstaat, losgelöst von Bagdad, ab.
Nach den Regionalwahlen 2018 spitzte sich die Spannung zwischen den beiden großen Kurdenparteien KDP und PUK zu. Masoud Barzani zog sich zurück und machte Platz für seinen Sohn und Neffen, die sich seitdem die Spitze der KRG teilen und immer autoritärer wurden. Korruption und Vetternwirtschaft entwickelten sich ungebremst, Journalisten wurden bedroht und sogar getötet, wenn sie über Machenschaften des Barzani-Clans schrieben, Studenten wurden gezwungen in die Partei einzutreten, Löhne im öffentlichen Dienst oft monatelang nicht bezahlt.
Als ein Gericht in Paris im März 2023 die Verträge der Autonomen Kurdenregion mit internationalen Ölfirmen, die an Bagdad vorbei geschlossen worden waren, als illegal bezeichnete und Strafen verhängte, stürzte Kurdistan in die wohl schwerste Krise seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahre 2003. Die Pipeline, in der kurdisches Öl in den türkischen Hafen Ceyhan zur Weiterverschiffung transportiert wurde, ist seitdem gesperrt. Kurdistan kann sein Öl nicht mehr exportieren.
"Das muss sich ändern", sagt Hoshyar Zebari, langjähriger Außenminister Iraks und jetziges Mitglied des Zentralkomitees der KDP. "Wir müssen die Wahlen abhalten, um eine neue Legitimation zu bekommen und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen." Er ist sicher, dass der Urnengang noch in diesem Jahr stattfinden wird. Die Partei, die das Wort Demokratie in ihrem Namen trägt, will also wieder demokratisch werden? Es gibt viele Kurden, die daran zweifeln.
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