Zivilisten im Visier
Dicke Luft in Bagdad. Im zweideutigen Sinne. Zum einen ziehen die jetzt einsetzenden Winternebel bis tief in die unteren Luftschichten und vermischen sich mit dem Smog aus Tränengas und brennenden Autoreifen. Zum anderen haben die schweren Kämpfe der letzten Tage mit vielen Toten und Verletzten die Stadt aufgewühlt und zugleich paralysiert.
Junge Demonstranten humpeln mit dicken Streckverbänden den Tahrir-Platz entlang. Man hört keine Schüsse mehr, dafür umso mehr Krankenwagensirenen. Die Stimmung liegt zwischen Resignation und "jetzt erst recht". Aus Angst in die Schusslinie der Scharfschützen zu geraten, bleiben vor allem Familien und Frauen derzeit zuhause.
Das ist wohl auch die Absicht der blutigen Operation, die die Regierung angeordnet hat. Sie will den Aufstand beenden. Zum zweiten Mal seit Ausbruch der Proteste im Irak vor sechs Wochen lässt Premierminister Adel Abdul Mahdi auf Demonstranten schießen. Soviel steht fest: von all den Protesten und Aufständen, die es weltweit derzeit gibt, sind die im Irak am blutigsten.
Wer gab den Schussbefehl?
Während die städtische Müllabfuhr die Scherben beseitigt, Bagger die von den Demonstranten als Wurfgeschosse benutzten Pflastersteine mit ihren Schaufeln aufnehmen, ist das Ende des politischen Scherbenhaufens, den diese Proteste hervorgerufen und auch ans Licht gebracht hat, weiterhin nicht abzusehen. Unstrittig ist, wer den Befehl gab, neben Tränengas auch scharfe Munition bei den Protesten einzusetzen und somit den Tod von bislang weitgehend friedlichen Demonstranten zu verantworten hat. Die den Vereinten Nationen angegliederte Menschenrechtskommission spricht inzwischen von 330 Toten seit Beginn der Proteste Anfang Oktober und rund 18.000 Verletzten. Unklar jedoch ist, wer geschossen hat.
Dhia al-Saadi empfängt in seinem Büro der irakischen Rechtsanwaltskammer auf der anderen Seite des Tigris, gegenüber dem Tahrir-Platz. In der Stadthälfte Kirkh liegt der Regierungsbezirk, sind viele Ministerien angesiedelt, befindet sich der Amtssitz des Premierministers. Aus Kirkh wurde auf die Demonstranten am Tahrir-Platz geschossen.
Der Vorsitzende der Vereinigung irakischer Juristen ist es gewohnt, dass Besucher derzeit verspätet bei ihm eintreffen, wenn sie von der anderen Seite des Tigris kommen. Von den vier Tigrisbrücken, die die Protestbewegung noch vor einer Woche besetzt hielt, sind mittlerweile drei von den Einsatzkräften geräumt worden, aber noch nicht für den Verkehr frei gegeben. Um von Rusafa nach Kirkh zu gelangen, muss man einen Riesenumweg fahren, der viel Zeit beansprucht.
Saadi ist ein kleiner, besonnener Mann, der erst einmal nachdenkt, bevor er antwortet. Er legt wert darauf zu betonen, dass die Anwaltskammer eine unabhängige Organisation sei, die seit 1933 bestehe und er selbst als unabhängiger Kandidat in sein Amt gewählt wurde. Das sei nicht einfach gewesen, da Politiker und Religiöse im Irak überall mitmischen wollen.
Anschwellende Proteste
"Den Befehl für beide Operationen gegen die Demonstranten gab der Oberbefehlshaber der Sicherheitskräfte, der Premierminister", sagt der Juristenchef bestimmt. Adel Abdul Mahdi habe die Toten und Verletzten zu verantworten. Bereits Mitte Oktober gab es in Bagdad und den südlichen Provinzen Iraks, wo ebenfalls Proteste toben, ein gewaltsames Eingreifen der Sicherheitskräfte mit über 100 Toten. Die Demonstrationen ebbten ein paar Wochen ab, um dann wieder umso heftiger anzuschwellen.
Am Beispiel Bagdad zeigt dies die Ausdehnung des Protestcamps. Während Anfang Oktober sich die Zelte lediglich auf den Tahrir-Platz beschränkten, gehen sie jetzt in die Breite. Saadi ist sich sicher, dass auch diese zweite Operation nicht die letzte sein werde. Doch wer schießt auf die Leute?
Von der Armee sind viele Soldaten im Protestlager, auch viele Polizisten solidarisieren sich mit den Demonstranten. Man sieht sie mit irakischer Fahne durch die Stadt fahren – eine eindeutige Sympathiebekundung. Das sei auch der Anwaltskammer zu verdanken, meint ihr Vorsitzender. "Die Juristen unserer Vereinigung haben sich ebenfalls auf die Seite der Protestbewegung gestellt", informiert Saadi, "wir haben zwei Stände am Tahrir, kommen mit den Leuten ins Gespräch, haben eine Gruppe von Anwälten, die sich um verhaftete Demonstranten kümmert". Stolz erzählt er, dass sie es geschafft hätten, bereits über 100 wieder frei zu bekommen.
Mit Überzeugungsarbeit wollen sie Polizisten und Soldaten dazu bringen, nicht gegen Demonstranten vorzugehen, sich nicht zum Instrument der Regierung machen zu lassen. Artikel 9 der 2005 in Kraft getretenen irakischen Verfassung verbietet den Einsatz der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung, für deren Schutz sie verantwortlich seien. Wörtlich heißt es: Irakische Armee und Polizei dürfen nicht als Instrument gegen das irakische Volk eingesetzt werden. Doch genau dies geschieht. "Die irakische Regierung verletzt die Verfassung", schlussfolgert Dhia al-Saadi.
"Ich will meine Rechte!"
"Destour", das arabische Wort für Verfassung, fällt auch oft am Tahrir-Platz dieser Tage. Von ihrem Verfassungsrecht sprechen die Demonstranten und fordern es ein. Überhaupt geht es bei diesen Protesten auch um Bürgerrechte und Menschenrechte. "Wir wollen, dass sich die Politiker an unsere Verfassung halten", fordert eine Gruppe Lehrerinnen, die sich am Tahrir versammelt hat und ein Pamphlet hochhält. Es geht auch um das Verfassungsrecht auf Bildung, das die Frauen nicht ausreichend verwirklicht sehen. Es gibt T-Shirts zu kaufen, auf denen steht: "Ich will meine Rechte!"
Wer auf sie schießt, wissen auch die Demonstranten am Tahrir-Platz nicht genau. Einige von den Schützen trügen irakische Armeeuniformen, andere seien in Jeans und T-Shirt, wieder andere schwarz gekleidet. Die Schüsse würden gezielt abgegeben, sagt Anwaltskammerpräsident Al-Saadi. Die harten Tränengasbomben würden gegen Schläfen und Brust der Demonstranten abgefeuert. "Sie haben die Absicht zu töten".
Alles deutet daraufhin, dass hier die Spezialeinheit, die sogenannte "Goldene Division" am Werk ist, die im Anti-Terror-Kampf ausgebildet ist und bei der Befreiung von Mossul aus den Klauen des IS an vorderster Front war. Deren Scharfschützen sind berühmt und berüchtigt und sollen auch bei den Protesten in Kerbela und anderen südlichen Städten zum Einsatz kommen, wie Augenzeugen berichten.
Ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Erzfeinden?
Die Demonstranten in Bagdad sprechen auch von der Präsidentengarde, die zwar so heißt, aber dem Premierminister untergeordnet ist. Das sind Teile der von Iran ausgebildeten und befehligten Schiitenmilizen, die im Rahmen der Volksmobilisierungskräfte ("Hashd al-Shaabi") nach dem vermeintlichen Sieg über die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) in die irakische Sicherheitsstruktur integriert worden sind. Mit viel Skepsis über ihre Loyalität, stellte sie Abdul Mahdis Vorgänger Haider al-Abadi unter seinen Befehl. Es gab aber von Anfang an erhebliche Zweifel, welchem Herrn diese Einheit eigentlich dienen wird.
"Wir sollten die Konfrontation zwischen dem Iran und den USA bei diesem Konflikt nicht unterschätzen", meint Dhia al-Saadi. Bedeuten die Demonstrationen also einen Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Erzfeinden? Soweit wolle er nicht gehen, sagt der Jurist vorsichtig. Einen Nebeneffekt hätten sie aber zweifelsohne.
Teheran jedenfalls behaupte, dass die Proteste von den USA und Israel gesteuert würden und sieht die Reaktion der irakischen Regierung als Anti-Terror-Kampf an. "Damit rechtfertigen sie die Schüsse und die Toten." Saadi und seine Kollegen befürchten, dass die Situation weiter eskaliert und sich zu einem Militärputsch ausweiten könnte - Beispiel Jemen. Dort liefern sich von Iran gestützte Huthi-Milizen seit 2015 einen blutigen Kampf mit einer Allianz aus Saudi-Arabien, den Emiraten und den Amerikanern. Nutznießer dieser verheerenden Situation sind extremistische Terrorgruppen wie Al-Qaida oder der IS. "Das wäre der absolute Untergang für den Irak!"
Birgit Svensson
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