Am Boden
Die eigentlich völlig unglaublichen Zahlen nennt der Film erst im Abspann: Derzeit sitzen ca. 7.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Und: 750.000 waren es seit 1967, dem Beginn der israelischen Besatzung Gazas, der Westbank und Ost-Jerusalems in Gefängnissen. Die meisten wurden von Militärgerichten verurteilt, andere werden als so genannte "Sicherheitsgefangene" ohne Urteil festgehalten. Es gibt praktisch keine palästinensische Familie ohne Gefängniserfahrung.
Es ist nicht Raed Andonis Mission, Fakten zu sammeln oder zu belegen. Das tun internationale, israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen. Andoni nähert sich dem Thema auf seine eigene, filmerische, künstlerische Weise. Ihm geht es um das Freilegen der Traumata, der Emotionen, der "Geister" die in den ehemaligen Häftlingen bis heute spuken. Ihm geht es um die kollektive palästinensische, vor allem aber die individuelle menschliche Erfahrung der Haft, der dort erlebten Gewalt und Erniedrigung sowie ihrer Folgen.
Was machen diese Extremerfahrungen mit einem Menschen? Raed Andoni hat sie während der ersten Intifada Ende der der 1980er Jahre, als Tausende gegen die Besatzung protestierende Palästinenserinnen und Palästinenser verhaftet wurden, selbst machen müssen.
Ehemalige Häftlinge als Schauspieler
"Die Geschichte beginnt mit meinen eigenen Geistern", sagt Andoni. "Es geht darum, verdrängte Emotionen hervorzuholen, die in mir und bei allen Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, verborgen liegen." Dafür sucht der Regisseur per Zeitungsannonce eine Gruppe von ehemaligen Häftlingen, die als Bühnenbilder und Handwerker ein Gefängnis am Filmset nachbauen können. Und er sucht Schauspieler, die Wärter und Häftlinge spielen. So beginnen Menschen, die selbst in Haft waren, akribisch ihr eigenes Gefängnis nachzubauen. Für die meisten war es das berüchtigte israelische Haft- und Befragungscenter "Russian Compound" ("Moskobiya") in Jerusalem.
Dieser Prozess löst unterschiedliche Emotionen aus. Die ehemaligen Häftlinge fühlen sich in ihre Zeit im Gefängnis zurückversetzt. In sieben Wochen intensiver Zusammenarbeit am Set entsteht von der Kamera begleitet in detailgetreuer, fast liebevoller Arbeit eine erschreckend realistische Gefängniskulisse. Darin stellen sie schauspielerisch Szenen aus dem Gefängnisalltag nach und setzen sich in unterschiedlichen Kunstformen mit dem Erlebten auseinander. Die Akustik am Set, die der Film wirkungsvoll einsetzt, ahmt den eindringlichen Sound des Gefängnisses nach: Stille, das Knallen von Zellentüren, das Brüllen von Wärtern.
Hier wird geplant und gebaut, wie andere ihre Wohnung oder ihr Haus planen und bauen. Die Erfahrung des Gefängnisses als physischer Ort hat sich tief eingeprägt. Sie haben ihn zwar eines Tages verlassen, aber tragen ihn ihr ganzes Leben mit sich herum. Indem sie den Ort rekonstruieren, so scheint es, "bauen" sie auch einen Teil des Traumas ab. Sie arbeiten sich im wahrsten Sinne des Wortes daran ab. Sie alle haben unterschiedliche Erlebnisse gemacht, die sie teilweise verdrängt haben.
Kein Platz für Reflexionen
Inder palästinensischen Gesellschaft, sagt Andoni, müssen sie dem Klischee der starken Männer und der Heldenverehrung der palästinensischen Gefangenen entsprechen, Platz für Reflexionen gibt es nicht. Am Filmset kommen die verdrängten Erinnerungen auf umso intensivere Weise zurück. Einer der Protagonisten ist spürbar erleichtert, nachdem er über seine furchtbaren Erfahrungen gesprochen hat. Er konnte im Gefängnis den Selbstmord seines Bruders nicht verhindern und leidet unter massiven Schuldgefühlen. Bei anderen löst die Erinnerung Albträume und Panikattacken aus.
"Man muss die Dinge, die einen belasten, fertig machen, sonst machen sie dich fertig", sagt Regisseur Andoni. Trotzdem hatte er fast ein schlechtes Gewissen, dass er den Menschen diesen Prozess antut. "Aber ich habe sie ja nicht eingeschlossen, sie konnten jederzeit gehen oder mit dem Projekt abschließen", sagt er. Zur Betreuung und Supervision war ein palästinensischer Psychologe anwesend. Zwei Jahre hat Andoni an einem Drehbuch gearbeitet, aber die Szenen am Set entstanden schließlich improvisiert. Dabei verschwimmen alle Grenzen: Dokumentarfilm oder Spielfilm, Sozialexperiment oder Gruppentherapie, Realität oder Fiktion.
Genauso verschwimmen die Grenzen zwischen den Rollen der Häftlinge und der Wärter. Alle diese Männer haben selbst im Gefängnis gesessen, jeder Einzelne ist traumatisiert, jeder geht anders damit um. Sie alle sind unfreiwillig zu Experten geworden: Zu Gefängnisexperten. Zu Folterexperten. Zu Experten für Befragungstechniken. Experten für Erniedrigung. Durch die eigene Erfahrung und die Beobachtung der israelischen Gefängniswärter und Befrager haben sie deren Gesten und Aktionen internalisiert und können sie problemlos abrufen. Wenn sie Szenen im Gefängnis mit verteilten Rollen nachspielen, wirkt die Darstellung der Wärter besonders überzeugend, bis hin zum hebräischen Slang, den sie alle im Gefängnis gelernt haben.
Den Häftlingen ziehen sie in diesen erschreckenden Szenen Säcke über den Kopf, fesseln sie hart, lassen sie in unbequemen Haltungen stehen. Wenn sie in der gespielten Situation jetzt selbst die Gewalt anwenden, die sie einst erfahren haben, wenn sie Gefangene erniedrigen und anschreien, wenn sie regelrecht durchdrehen und jede Beherrschung verlieren, wird ansatzweise deutlich welche "Geister" noch in ihnen verborgen liegt. Mehrmals müssen Szenen abgebrochen werden, bevor die Gewalt ausufert.
Universelle Geschichte über menschliche Macht und Missbrauch
Es ist eine palästinensische Geschichte, aber auch eine universelle über menschliche Macht und ihren Missbrauch. Schon das klassische "Stanford Prison Experiment" zeigte einst, wie schnell sich Menschen sich mit der Rolle von gewalttätigen Gefängnisaufsehern identifizieren können. Aber Raed Andoni geht weit über diese Ebenen der soziologischen Analyse hinaus. Er ist ein Filmemacher und er hat einen wunderbaren Film geschaffen. Es ist eine zutiefst menschliche, autobiographische Annäherung an das Thema.
Andoni selbst bezeichnet seine eigene Haft als junger Mensch, so abscheulich die Erfahrung war, auch als seine erste Lektion über das Filmemachen. Die Extremerfahrung zwinge dazu, die Imagination zu benutzen, um aus dem Gefängnis auszubrechen, um es zu überleben.
Auch mehrere der ehemaligen Häftlinge berichten am Filmset, wie in ihrer Gefängniszeit die Phantasie beim Überleben half, wenn enge Familienangehörige oder neu geborene Kinder fast physisch präsent zu sein schienen. In einer animierten Szene träumt sich ein Häftling in eine fantastische Welt, so wie einst Raed Andoni als 18-jähriger. "Damals war ich zwar keine Filmemacher. Aber das hatte ganz elementar etwas mit dem zu tun, was Kino ausmacht."
Andonis Film funktioniert auch, weil er tolle Charaktere gefunden hat: "Für mich ist das eine goldene Regel, ich arbeite nur mit Menschen, für die ich Zuneigung empfinden kann. Sonst fehlt die Leidenschaft und Energie, die einen guten Film ausmacht." Die Protagonisten schweißt das Projekt zusammen. Für alle ist es hart, aber auch bereichernd, inspirierend – und lustig. Auch im Gefängnis haben sie gelacht, denn Humor ist dort eine der Überlebensstrategien. Sie alle teilen eine Erfahrung, aber sie sind völlig unterschiedliche Persönlichkeiten.
Indem er ihnen Raum gibt sich auszudrücken, vermeidet Andonis Film jegliche Klischees. Er bleibt nicht bei der Betrachtung des Leidens oder der Inszenierung von Opferrollen stehen. Raed Andonis Werk hat die Chance als Traumatherapie zu funktionieren oder kann einen Anlass zu bieten, um über das politische Problem der Gefangenen zu diskutieren. Vor allem aber funktioniert er als eindrücklicher Kinofilm über Grundfragen der Conditio Humana.
René Wildangel
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