Faszinierendes Mosaik
"Aus dem Arabischen Frühling wurde ein kalter Winter" oder "demokratischer Aufbruch gescheitert" – solche Einschätzungen liest man regelmäßig in westlichen Medien, wenn es darum geht, die Nachwirkungen der Ereignisse von 2011 zu beschreiben. Mit Ausnahme von Tunesien hätten die Umstürze, Demonstrationen und Revolten in der MENA-Region nur Krisen, Kriege oder noch brutalere Diktaturen hervorgebracht. Am besten, man arrangiere sich mit den autoritären Regimen, Stabilität sei schließlich das Wichtigste.
Eine dergestalt auf die große Politik fixierte Perspektive auf den Nahen Osten und Nordafrika blendet das aus, was die Ereignisse von 2011 möglich machte: Zum einen den rasanten sozialen und kulturellen Wandel in der Region und zum anderen die einzelnen Menschen, mit ihren persönlichen Lebenszielen, ihren Erwartungen, ihren Hoffnungen und Wünschen.
Ein realistisches Bild der Gesellschaft
Das gilt bislang auch für Jordanien. Das kleine Königreich wird vor allem in seiner Rolle als "Stabilitätsanker" im Nahen Osten wahrgenommen, als Mittelmacht zwischen den Erzfeinden Israel und Iran und als Aufnahmeland für Geflüchtete aus Syrien. Die kulturelle, religiöse und ethnische Vielfalt Jordaniens, die sozialen und sozioökonomischen Dynamiken der jordanischen Gesellschaft werden dagegen selten gesehen.
Das neue Buch von Rana Sweis "Stimmen aus Jordanien" (Voices of Jordan) bietet eine exzellente Gelegenheit, vereinfachte Sichtweisen in Frage zu stellen und den Blick zu weiten.
Sweis, die seit vielen Jahren unter anderem für die New York Times und die Huffington Post arbeitet, hat sich in Jordanien über einen Zeitraum von teilweise mehr als zwei Jahren mit insgesamt zehn Protagonist*innen und deren Familien immer wieder zu Interviews getroffen und sie nach ihren Problemen, ihren Hoffnungen und Wünschen für eine bessere Zukunft gefragt.
Zu den Interviewten gehörten unter anderem eine prominente Parlamentsabgeordnete aus Jerash; eine Gymnasiastin, ein bekannter Karikaturist und eine Mode-Influencerin aus Amman; ein radikaler Salafist aus Russeifeh; ein junger beduinischer Soldat aus dem tiefsten Südjordanien; ein Immobilienmakler aus Fuheis; eine geflüchtete Ehefrau und Mutter aus Syrien und – nicht zuletzt - ein Familienvater aus der palästinensisch dominierten Stadt Zarqa, der 2012 mit Frau und Kindern in die USA ausgewandert ist.
Obschon nicht strikt repräsentativ, vermittelt die Auswahl ein realistisches Bild der Gesellschaft und erlaubt spannende perspektivische Brechungen, denn die Protagonist*innen sind jung oder alt, christlich oder muslimisch, arabisch oder tscherkessisch, palästinensischer Herkunft oder sogenannte Ostjordanier (East Banker).
Fakten zur Geschichte und vielschichtige Familienbilder
Rana Sweis gibt die Interviews im Buch nicht eins zu eins wieder. Sie verschränkt ihre Gespräche erzählerisch mit Fakten zur Geschichte Jordaniens sowie zur aktuellen Politik und Gesellschaft des Landes. Dazwischen liest man Passagen, in denen Rana Sweis detailliert beschreibt, wie und wo die Gespräche verlaufen. Teilweise bezieht sie auch Freunde und Verwandte der Protagonisten mit ein. So entstehen hochinteressante, vielschichtige Familienbilder, teilweise mischt sich Privates mit Politischem.
Rana Sweis schafft eine beeindruckende Nähe, wahrt aber auch respektvolle Distanz, wo es angebracht ist. Einige Protagonist*innen sind eher zurückhaltend bei privaten Themen. Andere reden sehr persönlich über emotionale Konflikte und Krisen. Dabei kommt nahezu alles auf den Tisch: Religion, Familie, Ehe, Geschlechterverhältnisse, aber auch politische und ökonomische Probleme.
Der junge Beduine Sultan Al Maznah erklärt, warum er aus Gründen der materiellen Sicherheit unbedingt Soldat werden wollte und warum er mit seiner Ehefrau lieber im Dorf bleibt, als in die Stadt zu ziehen. Der prominente Karikaturist Omar Al Abdallat erzählt sehr persönlich über Schaffenskrisen und beschreibt anschaulich seine Erfahrungen mit Zensur und Selbstzensur in Medienhäusern.
Die Juristin und Frauenrechtlerin Wafa Bani Mustafa ist stolz, dass sie als jüngste Frau den Sprung ins Parlament schaffte, aber sie spricht auch offen über ihre Furcht, dass sie als Abgeordnete den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht werden könnte. Der arbeitslose Familienvater Naser Farhan schildert seinen persönlichen Werdegang als Salafist und zeigt sich ratlos, weil sein eigener Sohn ideologisch derart radikal und intolerant ist, dass auch er nicht mehr an ihn herankommt.
Der Wunsch nach Freiheit
Ein wiederkehrendes Thema in den Gesprächen ist der Wunsch nach mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit, sowohl in der Familie als auch im Staat. Aber es gibt auch einen starken Wunsch nach traditionellen Autoritäten, privat und politisch. "Jordanien ist wie ein Mikrokosmos der arabischen Region, mit all seiner Vielfalt, seinen Frustrationen und den Hoffnungen für eine bessere Zukunft", schreibt der ehemalige jordanische Premierminister Abdelkarim Kabariti im Vorwort. "Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sehen sich nach besserer Regierungsführung, echten Wahlen, wirtschaftlichem Wohlstand und individueller Erfüllung".
Kabariti hält eine umfassende Wertediskussion für nötig: "Wenn die arabische Welt den Übergang in eine pluralistische Gesellschaft wünscht, dann ist ein anderer Diskurs notwendig - ein Diskurs, der die Vielfalt der ethnischen Herkunft, der Religion, der Kultur, des Geschlechtes und der Weltanschauung respektiert. Ein Diskurs, der die Herausforderungen für die Region nicht nur benennt, sondern der beginnt, sie zu lösen."
Rana Sweis erklärt, dass sie mit ihrem Buch eigentlich ein westliches Publikum habe ansprechen wollen. Doch im Zuge der Interviews sei ihr bewusst geworden, dass ihr Buch auch für die Jordanier selbst interessant sein könnte, denn sie wüssten teilweise erstaunlich wenig voneinander. "Wir wohnen vielleicht im selben Haus, aber wir kennen vielleicht trotzdem unsere Nachbarn nicht", schreibt Sweis.
Die Porträts von Rana Sweis bilden in der Zusammenschau ein faszinierendes Mosaik der jordanischen Gesellschaft – eine Gesellschaft, die alles andere als statisch ist, sondern die sich spürbar im Umbruch und Aufbruch befindet, ohne dass klar ist, wohin die Reise gehen soll. Wer dieses Buch gelesen hat, wird vielleicht auch anders auf die Ereignisse von 2011 schauen. Denn die Veränderungen, die das Buch sichtbar macht, waren bereits vor 2011 im Gange und sie sind es immer noch.
Der Arabische Frühling ist aus diesem Blickwinkel nicht nur eine gescheiterte Revolution, sondern auch der Kulminationspunkt einer langfristigen gesellschaftlichen Transformation, die ihren politischen Ausdruck sucht. Diese Transformation im Namen einer wie auch immer gearteten Stabilität unterdrücken zu wollen, ist ein fragwürdiges Unterfangen.
Martina Sabra
© Qantara.de 2019
Rana Sweis: "Voices of Jordan", Hurst Publishers 2018, 184 Seiten, ISBN: 9781787380134