Das langsame Erwachen
Man kann sagen, dass Jordanien in den letzten Jahren einen Schritt in Richtung “Erwachen” gemacht hat. Nationale Institutionen werden von der jordanischen Jugend permanent infrage gestellt und ein Wertewandel zeichnet sich ab, der von zwei gegensätzlichen Faktoren geprägt ist: Erstens einer täglichen politischen und wirtschaftlichen Realität, die Kultur, Bildung, Familienbeziehungen sowie die Dynamiken zwischen Jugend und urbanem Leben beeinflusst, und zweitens der Darstellung kultureller Werte der Jugend in den Medien.
Die Ankunft der vielen Flüchtlinge infolge der Irak-Invasion durch die USA im Jahr 2003 und der Aufstände in Syrien 2011 hatten auch Auswirkungen auf Jordanien und sein wirtschaftliches, politisches, soziales und kulturelles Gefüge. Die neu entstandene Diversität hat ein fruchtbareres Umfeld des kulturellen Austauschs und Dialogs in Amman geschaffen. Andererseits jedoch ist das Land von stagnierenden Staatsreformen, Missmanagement und Korruption sowie sinkenden Fördergeldern in der Region geplagt, was wiederum Jordaniens Infrastruktur auf eine Belastungsprobe stellt.
Zwei kulturelle Generationskonflikte
Vor dem Hintergrund der oben genannten Widersprüche bilden sich derzeit zwei kulturelle Generationskonflikte in Amman heraus, in denen eine neue kulturelle Identität der Unabhängigkeit mit der politisierten ruralen und beduinischen Identität zusammenstoßen. Hierbei handelt es sich, laut Dr. Aseel Sawalha, auch um einen politischen Konflikt. Dr. Sawalha ist eine jordanische Wissenschaftlerin, die sich derzeit mit Identität sowie der Sehnsucht nach mehr individueller Freiheit auseinandersetzt.
Die "Werteverschiebung" der Generationen beschränkt sich in Jordanien nicht auf ein bestimmtes gesellschaftliches Segment, sondern vollzieht sich in der Gesellschaft als Ganzes, ohne hier eine Einheit implizieren zu wollen. Ganz im Gegenteil existiert eine kulturell vereinte, jordanische Gesellschaft nicht und ist lediglich eine Erfindung staatlicher Propaganda.
In der Nahaufnahme offenbaren sich viele komplexe und miteinander verwobene Systeme von Normen, Traditionen und kulturellen Werten, die sich entlang zahlreicher sozioökonomischer Spaltungen erstrecken. Daher muss jede Diskussion eines kulturellen Generationskonflikts notwendigerweise diese Realität in Betracht ziehen.
Die Berührung mit dem westlichen Lebensstil und kulturellen Werten durch Film und TV, Internet sowie durch Begegnungen mit der wachsenden Anzahl von in Amman lebenden Expats in neuen Interaktionskontexten (bei der Zusammenarbeit in NGOs oder in kulturellen Nachbarschaften wie Jabal Al-Lweibdeh und Jabal Amman) tragen dazu bei, dass sich die kulturellen Werte dort verschieben, wo es wirtschaftlich und kulturell möglich ist.
Drang der Jugend nach Unabhängigkeit
Obwohl im Mittelpunkt der jordanischen Gesellschaft, wie fast überall im Nahen Osten, weiterhin die Familie steht, wird ihr Status immer häufiger durch die Jugend Ammans herausgefordert. Sie sehnt sich nach mehr Individualität, Privatsphäre, freiem kulturellen und politischen Ausdruck, Unabhängigkeit, der Erschaffung von und Zugehörigkeit zu Subkulturen und nach Aufschub der Ehe – auch wenn diese von vielen gut gebildeten jungen Menschen als einfacher Ausweg aus dem Einflussbereich der Familie genutzt wird.
Dem Streben nach Individualismus und Freiheit stellt sich die harte kulturelle und wirtschaftliche Realität Jordaniens entgegen. Nach wie vor wird von jungen Männern erwartet, einen Uni-Abschluss zu machen, sich einen geregelten Job zu suchen, Geld zu sparen, eine Familie zu gründen, "ein Haus zu eröffnen" und ein "normales Leben" zu führen, wie es die Gesellschaft für ihn vorsieht.
Männer wie auch Frauen sollen möglichst so lange zuhause bei der Familie wohnen, bis sie verheiratet sind. Für die meisten Eltern der älteren Generationen ist es nicht einmal annähernd verständlich, warum junge Menschen nach dem Abschluss ausziehen und allein leben wollen würden. Wenn es für alleinstehende Männer schwierig ist, die Familie von der geplanten Selbstständigkeit zu überzeugen, dann ist es für Frauen beinahe unmöglich. Ausnahmen bestehen nur dann, wenn die Frau einen Universitätsabschluss in einer anderen Stadt anstrebt, wo sie in einem streng geregelten Studentenwohnheim lebt, oder wenn sie alleinstehende Mutter ist.
Die harte wirtschaftliche Realität
Dem Streben nach Individualismus und Freiheit stellt sich auch die harte kulturelle und wirtschaftliche Realität Jordaniens entgegen, denn das Leben in der Stadt ist teuer. Der Verbraucherpreisindex liegt derzeit, laut Statistiken von TradingEconomics.com, bei 120. Zudem ist es heute schwieriger denn je, einen Job nach dem Abschluss zu finden. Laut Jordaniens Statistikbüro erreichte die Arbeitslosenquote im zweiten Quartal 2017 18 Prozent (13,4 Prozent unter Männern, 33,4 Prozent unter Frauen).
Aber auch wenn ein junger Universitätsabgänger es tatsächlich schaffen sollte, an einen Job zu kommen, ist die Hoffnung auf gute Bezahlung, die ein anständiges Leben, oder zumindest eine stetige Gehaltserhöhung ermöglicht, gering.
Lange Zeit fehlte es Amman und der hier stark vertretenen Mittelschicht an Repräsentation in den Medien. Das lag zum einen an der nachlassenden Qualität nationaler Fernsehproduktionen ab den 1990er Jahren und zum anderen an der geringen Priorität, die der Staat der Hauptstadt und Mittelschicht zuschrieb, während er sich unter der Beduinenbevölkerung Jordaniens um stärkeren Zuspruch bemühte.
Die Unterrepräsentation der Mittelschichtskultur war überall bemerkbar: im Lokalfernsehen, in Serien und sogar in den Zeitungen. Zwar gab es einige private Initiativen, um dies zu ändern. Die einzig erfolgreiche war jedoch lediglich die Etablierung von Roya TV im Jahr 2011 durch einen jordanischen Investor. Das Programm des Senders war vor allem dem gewidmet, was die ganze Zeit gefehlt hatte: dem sozialen und kulturellen Leben der Ammaner Mittelschicht und der Jugend. In Jugendtalkshows wie Caravan oder Comedyserien wie Female erhielten sie nun die nötige Aufmerksamkeit.
Vorbei an kulturell traditionellen und politischen Werten
Alles in Amman ist zentralisiert und so ist es absehbar, dass sich auch der Wertewandel und das Streben nach Individualität schnell vollziehen. Sie spiegeln sich in den tagtäglichen Kulturveranstaltungen wider, von denen es in Amman heute mehr denn je gibt.
Die Kunst- und Kulturszene Ammans floriert und wird stetig durch weitere unabhängige Kunsträume, Galerien und Kulturcafés erweitert, finanziert von Individuen oder Organisationen. Kulturelle Initiativen wie Buchclubs oder Rock- und Hip Hop-Konzerte sind nicht länger die Ausnahme, sondern die Regel – überall in Jordanien. Der hohe Berührungsgrad mit Kunst- und Kulturevents, wie Kunstausstellungen, einer Design-Woche, die mittlerweile das zweite Jahr in Folge stattgefunden hat, Filmfestivals, Talks und Podiumsdiskussionen, und mit ihrem internationalen Publikum – all das treibt den Wertewandel an.
Die explosionsartige Verbreitung kultureller Aktivitäten lässt inmitten aller Schwierigkeiten ein Gefühl der Hoffnung entstehen. Während über vorangegangenen Generationen die Wolken politischer Niederlage hängen, sind sich die jüngere Generation – ob nun politisiert oder nicht – bewusst, dass der einzige Weg nach vorne nur buchstäblich nach vorne führt, vorbei an kulturell traditionellen und politischen Werten. Angesichts der harschen wirtschaftlichen Lage Jordaniens ist dies allerdings ein schwieriger Weg.
Yazan Ashqar
© Goethe-Institut Kairo/"Perspektiven" 2018