Mythos Abendland
Europa steckt in einer Zerreißprobe. Unter den Nachwirkungen der Finanzkrise scheinen sich die Europäer höchstens noch auf einen gemeinsamen Gegner einigen zu können. Glaubt man dem Niederländer Geert Wilders oder der britischen UK Independence Party, dann geht es nicht bloß um eine Flüchtlingskrise: Vielmehr bedrohe vor allem der Zustrom der Muslime die westliche Zivilisation – vergleichbar mit dem Vormarsch der Araber im 7. Jahrhundert und dem Ansturm der Osmanen im 16. Jahrhundert.
So ist es kein Zufall, dass Deutschland die Wiederkehr eines einst gängigen, aber in jüngerer Zeit aus der Mode gekommenen Wortes erlebt: „Abendland.“ Als Antonym zum griechisch-orthodoxen und muslimisch geprägten Morgenland – dem Orient – bezeichnete das Abendland – der Okzident – ursprünglich den westlichen Teil Europas.
Rechtspopulisten verwenden es heute als Synonym für Westeuropa und dessen Werte. Die zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise entstandene fremdenfeindliche Bewegung Pegida, führt das Abendland explizit im Namen: „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“.
Doch das Abendland hatte nicht immer diese finstere Konnotation. Philosophisch Gebildete erinnern sich an das Werk „Der Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler, das in zwei Bänden zwischen 1918 und 1922 erschien.
Im 19. Jahrhundert erlebte der Abendlandbegriff im Rahmen der deutschen Romantik eine Wiederauferstehung, insbesondere mit Bezug auf die Musik und Architektur des Mittelalters. Die eigene Geschichte und das Heimatland, die „Heimat“, verschmolzen zur Idee einer romantischen, westeuropäischen Vergangenheit. So wurde der Begriff Abendland semantisch neu aufgeladen und zum kulturellen und psychologischen Bollwerk gegen die entrechtende Anonymität der urbanen Industrialisierung.
Im Namen des Westens
Die Nazis bedienten diese Gefühle in den 1920er und 1930er Jahren und reklamierten den Begriff „Abendland“ für ihre eigenen sinisteren Zwecke. So wie sie die deutsche Gesellschaft umzugestalten versuchten, so positionierten sich die Nazis als Verteidiger einer reinen westeuropäischen Vergangenheit: Hitler galt ihnen als Erbe Karl des Großens. Die Nazis nahmen für sich in Anspruch, allein in der Lage zu sein, den Westen gegen die Juden und den sowjetischen Kommunismus zu verteidigen.
Heute erhebt die deutsche Rechte ähnliche Ansprüche, indem sie vorgibt, „das Abendland zu retten“. Dieses Mal allerdings nicht vor den Bolschewiken, sondern vor den Muslimen. Die Angst der Untergangsapologeten findet sich allerdings nicht nur bei der Rechten: In einer Zeit, in der Deindustrialisierung, Globalisierung, Automatisierung und der schnelle technische Wandel die europäische Gesellschaft aufschrecken, sehen viele Deutsche aller Couleur wieder einmal das Ende ihrer Welt nahen.
Diese Angst ist befremdlich, denn Deutschland hat sich in den vergangenen 15 Jahren sehr gut geschlagen. Es ist eines der wenigen europäischen Länder, die von der Globalisierung profitiert haben. Die Arbeitslosigkeit ist fast auf Rekordtief. Doch Angst braucht keine rationale oder empirische Begründung. Und tatsächlich zeigen Umfragen, dass einwanderungsfeindlich gesinnte Menschen oft finanziell besser dastehen als der Durchschnitt. Allerdings haben sie auch überdurchschnittlich große Furcht vor der Zukunft.
Dazu passt, dass die Abneigung gegen Muslime dort am stärksten ist, wo der Immigrantenanteil besonders klein ist. Die Basis von Pegida ist Dresden. Der Ausländeranteil dort liegt bei weniger als zwei Prozent.
Die schnelle Integration von einer Million Einwanderern würde sicherlich jede Gesellschaft vor große Herausforderungen stellen. Doch Muslime dienen eher als Sündenbock und als Ventil für die Sorgen und Ängste der Gesellschaft. Die Furcht vor der Zukunft entstammt der gleichen irrationalen Angst, die im Mittelalter die Menschen dazu veranlasste, Skulpturen mystischer Kreaturen an die Westfassaden ihrer Kathedralen zu meißeln.
Wer definiert das Abendland?
Trotz des Diskurses über die europäische Integration in den letzten 50 Jahren haben die beiden vergangenen Jahre gezeigt, wie tief verwurzelt bestimmte Instinkte in Westeuropa sind. Aus der Abgrenzung gegenüber anderen und aus der Grenzsicherung zur Durchsetzung von Homogenität entwickelte sich die Vision Karl des Großens, die deutschen Stämme unter der neuen christlichen Religion zu vereinen. Sein Werk trug nicht umsonst den Namen „Heiliges Römisches Reich“.
Die gleiche Sehnsucht nach Homogenität trieb ganze Länder dazu, während der Reformation entweder protestantisch zu werden oder katholisch zu bleiben. Den Menschen blieb nur die Wahl, sich entweder der Konfession ihres Herren zu beugen oder auszuwandern.
Heute ist Europa allerdings weitgehend säkularisiert. Doch dort, wo aus dem Glauben keine Motivation mehr erwächst, funktioniert das Christentum zumindest noch als Platzhalter für andere westliche Werte. Es ist Teil der westeuropäischen Identität und ein Werkzeug zur Identifizierung des anderen.
Angesichts dessen könnte man meinen, der Begriff Abendland sei für immer beschädigt. Doch seine Popularität für die Rechte verdeutlicht auch, um welchen Kampf es eigentlich geht. Ein Kampf, der sich in der Abstimmung um den Brexit ebenso entlud wie in den jüngsten Wahlen bei unseren niederländischen Nachbarn und den wir im Laufe dieses Jahres auch in Frankreich und Deutschland erleben werden.
Es ist kein Kampf zur Verteidigung des Westens, sondern ein Kampf darum, was „der Westen“ bedeutet. Abendland bedeutet nicht zwingend Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Es kann auch für Offenheit und liberale Toleranz stehen. Dass Pegida und ähnliche Bewegungen den Abendlandbegriff derzeit für sich reklamieren, bedeutet eigentlich nur, dass es für deren Gegner an der Zeit ist, ihn zurückzuerobern.
Alexander Görlach
©Qantara.de 2017
Alexander Görlach ist Gastwissenschaftler am Center for European Studies an der Harvard University.