Muslime, die nicht mehr glauben wollen
Nein, über das Thema könne sie jetzt nicht sprechen, sagt Mina Ahadi leise, aber bestimmt. Die Telefonleitung knistert, ihr Zug rauscht von einem Funkloch ins nächste. Aber es ist nicht die schlechte Verbindung, die Ahadi zögern lässt, sondern das Thema. In ein paar Stunden sei sie zu Hause, dann könne sie offen reden. "Aber jetzt, im Zug, das geht nicht." Später, als sie in ihrer Wohnung in Köln ist, wird sie sich entschuldigen und erklären, dass sie sich nicht sicher fühle, wenn sie das Wort "Ex-Muslime" oder ihren Namen in der Öffentlichkeit benutze. Nur zu Hause könne sie offen reden.
Die Angst, glaubt sie, ist begründet: Ahadi erhält immer wieder Briefe, in denen anonyme Schreiber ihr drohen, sie zu erschießen oder dass sie in einem Autounfall sterben wird. Der Grund: Ahadi hat 2007 den Zentralrat der Ex-Muslime gegründet, ein Zusammenschluss von Menschen, die dem muslimischen Glauben abgeschworen haben. Damit, sagt sie, wollte sie ein durchaus "provokatives Zeichen" setzen gegen das Etikett "Muslim", das Einwanderern aus islamischen Ländern fast automatisch aufgelegt werde - egal, ob er nun Christ, Atheist oder tatsächlich Muslim sei. Danach wurde ihr Wohnung monatelang von der Polizei bewacht. Auch heute geht sie nicht gerne alleine auf die Straße, zu groß ist ihre Angst, dass sie jemand erkennen könnte: Sie, die Ex-Muslimin, über die manche die Todesstrafe verhängen wollen, weil sie ihrer Meinung nach vom rechten Glauben abgefallen ist.
Es gibt durchaus Gruppen, vor allem aus dem salafistischen Milieu, die Todestrafen gegen Apostaten aussprechen, bestätigt Mouhanad Khorchide, der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster. Sie berufen sich dabei auf ein Hadith, also eine Aussage des Propheten, die besage: "Wer seine Religion wechselt, den sollt Ihr töten." Doch diese Überlieferung sei bei vielen islamischen Gelehrten äußerst umstritten, betont Khorchide immer wieder, die Authentizität sei zweifelhaft. Im Koran selbst stehe lediglich, dass Gott im Jenseits mit den Menschen abrechnen werde. "Von einer diesseitigen Sanktion oder Strafe steht dort nichts."
Glaubenszwang als Sünde
Immer weniger Staaten und islamische Schulen - von Saudi-Arabien, dem Iran und einigen salafistischen Strömungen abgesehen -, würden heute solch einer strikten Interpretation folgen. Doch die Gefahr geht, davon ist Khorchide überzeugt, von Einzelpersonen aus, die sich dazu berufen fühlen könnten, auf eigene Faust zu handeln: "Radikalisierte Fundamentalisten", die mit dem wahren Islam nichts gemein haben, so nennt sie Bekir Alboga von der "Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion" (DITIB). Fundamentalisten, die sich vor allem im Internet ohne Anleitung radikalisieren. Aber, das betont er, in der muslimischen Gesellschaft bildeten sie eine absolute Minderheit. Im Koran werde ein kategorisches Verbot von Zwang ausgesprochen, so der Islamwissenschaftler und Theologe, der in Köln lebt. "Das Gebot im Koran ist eindeutig: Wer versucht, Menschen zu zwingen, den Glaube anzunehmen oder in ihrem Glauben zu bleiben, der begeht eine schwere Sünde."
Angst vor Gewalt, glaubt Mina Ahadi, haben die jungen Menschen nicht, die immer wieder den "Zentralrat der Ex-Muslime" anrufen und um Hilfe bitten. "In Europa gab es bislang keinen Fall, dass jemand ermordet wurde, weil er oder sie nicht mehr an Gott glaubt." Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: "Gott sei Dank!" Nein, die jungen Frauen und Männer, mit denen sie spricht, fürchteten die gesellschaftliche Ächtung. "Sie haben Angst, ihrer Familie zu verlieren und verstoßen zu werden."
Zuzugeben, dass sie nicht mehr an Gott glaubten, sei oft ein großer Schritt. Viele würden es deshalb vorziehen, weiterhin den längst verlorenen Glauben vorzuspielen: Mädchen binden ihr Kopftuch auf dem Nachhauseweg wieder um, junge Männer gehen mit ihren Vätern in die Moschee und tun so, als ob sie beten. Dabei entspricht die Freiheit, den Glauben abzulegen, durchaus dem Geist des Korans, davon ist Khorchide überzeugt. Er bringe seinen Studenten bei, dass allein die aufrichtige Intention zählt. "Alles andere ist Erziehung zu Heuchelei."
"Jeder hat das Recht, an irgendwas zu glauben"
Er habe zwei Jahre gebraucht, bis er sich dazu entschlossen habe, sich bei seiner Familie in Bagdad zum Atheismus zu bekennen, erklärt Saif Al-Basri, ein Medizinstudent, der heute in Münster lebt. Die Reaktion habe ihn positiv überrascht, sagt er: Seine Familie habe seine Entscheidung zwar nicht gut geheißen, sie aber akzeptiert. Seine Onkel hätten zwar versucht, ihn zu überzeugen, dass er verwirrt sei, es sich anders überlegen sollte, dass er in die Hölle kommen könnte. Aber: "Das waren ganz normale, friedliche Reaktionen. Das habe ich in der Form nicht erwartet."
Seine Meinung hat er trotzdem nicht geändert: Saif hatte den irakischen Bürgerkrieg nach dem Sturz von Saddam Hussein erlebt, als ganze Nachbarschaften in der Bagdad von sunnitischen und schiitischen Extremisten entlang von Religionszugehörigkeit gesäubert wurden. 2006 floh der damals 16-Jährige vor dem Krieg zu Verwandten nach Deutschland. "Natürlich war der Bürgerkrieg ein Faktor, der mich zum Nachdenken gebracht hat", schildert er.
"Nichts als heiße Luft"
Seine Stimme klingt nüchtern und kontrolliert. Irgendwann wurden für ihn die Diskrepanzen zwischen Religion und der Wissenschaft zu groß, die Idee von Gott zu unglaubwürdig. Jede Religion sei gefährlich, weil sie den Menschen keine Wahl lasse. "Jeder hat das Recht an irgendetwas zu glauben, von mir aus auch an das fliegende Spaghetti-Monster – solange er anderen damit nicht schadet." Doch oft ließe man jungen Menschen keine Wahl, ihnen würden Vorstellungen von Sünde und Hölle auferlegt. Dann, sagt Saif, wird Religion zu "Terrorismus".
In Deutschland bloggt er deshalb, veröffentlicht islamkritische Artikel und übersetzt wissenschaftliche Artikel, um Menschen aufzuklären. Das macht er unter seinem eigenen Namen. Natürlich habe er auch Morddrohungen erhalten. "Fanatiker gibt es überall, auch online." Sein Account sei mehrfach von Aktivisten, die er "Online-Dschihadisten" nennt, gehackt worden, die speziell islamkritische Seiten attackieren. Angst vor wirklicher Gewalt hat er aber keine: Einmal habe er jemandem, der ihn bedroht hatte, seine genaue Adresse in Münster geschickt - passiert sei nichts. "Das ist doch alles nur heiße Luft." Er lacht.
Er sei dankbar heute in Deutschland zu leben, wo er sich so offen äußern könne: Viele seiner Freunde, die er aus Foren von Ex-Muslimen kennt und die in verschiedenen arabischen Ländern leben, müssten ihre Identität verheimlichen. Diese Angst ist bisweilen berechtigt: Waleed Al-Husseini, der in der Westbank islamkritische Blogs unter seinem eigenen Namen veröffentlichte, wurde 2010 verhaftet. Er verbrachte zehn Monate in Haft. Als er wieder freigelassen wurde, hätten ihm viele gesagt: "Du bist hier nicht mehr willkommen."
Es habe sogar Aufrufe gegeben, ihn öffentlich zu lynchen. Natürlich hätte er vorsichtiger sein sollen, seine Identität besser schützen sollen, sagt Waleed, der heute in Frankreich lebt. "Aber ich hatte keine Ahnung, dass ich verhaftet werden würde, nur weil ich den Islam kritisiere." Zurück nach Palästina könne er wohl nicht. Aber er bereue es nicht, sich kritisch geäußert zu haben, beteuert er: Wenn er so getan habe, als ob er an Gott glaube, "dann hätte ich nicht nur mich, sondern auch die echten Muslime belogen." Und das, sagt er, sei falsch.
Naomi Conrad
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Kay-Alexander Scholz/DW & Arian Fariborz/Qantara.de