Sehnsucht nach einer anderen Art der Liebe
Auf den Bestsellerlisten in der Türkei hält sich seit Jahren hartnäckig ein recht ungewöhnliches Buch: Sabahattin Alis „Madonna im Pelzmantel“. Der Roman, der in der 20er Jahren in Berlin spielt, wurde 1943 veröffentlicht und war in der Türkei lange fast vergessen, bevor er Ende der 90er Jahre neu entdeckt wurde. Seitdem verkaufte sich das Buch zwischenzeitlich sogar besser als die Werke des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk. Angesichts dieses überraschenden Erfolgs wird gerätselt, was die Leser an dem Roman so fasziniert.
"Es ist ein elegant erzählter Roman über das universelle Thema einer unmöglichen Liebe", sagt die Literaturwissenschaftlerin Olcay Akyilidz von der Bosporus Universität in Istanbul. "Mehr noch hat mich an dem Buch berührt, dass es auch die Geschichte eines unerfüllten Lebens ist."
Warum der Roman heute geradezu Kult ist, findet sie aber schwer zu erklären. Ihre Studentin Meryem Selva Ince, die zur Rezeption des Buchs recherchiert hat, erzählt, dass es von jungen Türken teils wie ein Kunstobjekt behandelt werde, mit dem man sich selbst in Szene setzt.
Dabei ist der Roman keine gefällige Romanze. Der Leser lernt Raif Efendi als älteren, ergrauten Mann kennen, der in einer Handelsfirma in Ankara schweigsam seiner Arbeit als Deutsch-Übersetzer nachgeht. Zuhause teilt er sich die Wohnung mit einer Frau, die er nicht liebt, und einem Haufen lärmender Verwandter, die auf seine Kosten leben, ihm jedoch mit offener Verachtung begegnen. Als er tödlich erkrankt, bittet er einen befreundeten jungen Kollegen, ein Notizbuch zu verbrennen, damit seine Familie es nicht in die Hände bekommt.
Erinnerungen an die große Liebe
Stattdessen liest der Kollege jedoch das Heft, dem Raif seine Erinnerungen an seine große Liebe anvertraut hat. Sein Vater hatte ihn nach dem verlorenen Krieg nach Berlin geschickt, um das Handwerk der Seifenmanufaktur zu erlernen. Stattdessen jedoch liest der junge Mann russische Romane und streift durch die Großstadt – ziellos und ohne Vorstellung, was er mit seinem Leben anstellen soll.
Er erlebt das Berlin der 20er Jahre mit seinen Kabaretts, Tanzlokalen und Kunstgalerien, doch kann es ihn weder fesseln noch von seinem Gefühl der Leere befreien.
Dann jedoch stößt Raif in einer Galerie auf ein Porträt, das ihn sofort in seinen Bann zieht. "Es ist mir jetzt, nachdem so viele Jahre vergangen sind, unmöglich, die Gefühle zu beschreiben, die plötzlich auf mich hereinstürmten. Ich weiß nur noch, dass ich dort, vor dem Porträt einer Frau im Pelzmantel, wie angewurzelt stehen blieb", schrieb Raif.
In ihrem Antlitz habe ein "eigenartiger, halb wilder, halb hochmütiger, auf jeden Fall äußerst starker Ausdruck gelegen", der "Unschuld mit Willenskraft und eine tiefe Melancholie mit Charakterstärke zu vereinen schien".
Maria – die Seelenverwandte
Immer wieder kehrt Raif zu dem Selbstporträt zurück, bis er durch Zufall eines Nacht betrunken auf der Straße auf die Malerin stößt. Maria ist eine eigenwillige, willensstarke und unabhängige Frau, die ihr Geld als Sängerin in einem Kabarett verdient und ihm gleich zu Beginn ihrer Freundschaft einschärft, dass er niemals etwas von ihr verlangen dürfe.
Der schüchterne, gehemmte Raif, der bis dahin ziellos durchs Leben trieb, will dies nur zu gern akzeptieren, erkennt er doch in Maria die Seelenverwandte, nach der er sich schon immer gesehnt hatte.
Die Geschichte der "Madonna im Pelzmantel" ist in Teilen autobiographisch, wie Sabahattin Alis 79-jährige Tochter Filiz kürzlich in einem Interview erzählte. Der 1906 geborene Schriftsteller, Journalist und kommunistische Aktivist hatte selbst einige Jahre in Berlin verbracht, wo er mit einer jungen Frau namens Maria befreundet war.
Später in den 1930er Jahren gab er in Ankara eine Satirezeitschrift heraus, in der er die regierenden Kemalisten so scharf attackierte, dass es ihn wiederholt in Haft landete und schließlich zur Schließung der Zeitung führte.
Echo in der heutigen Türkei
Als Sabahattin Ali in der Türkei weder Arbeit als Lehrer fand, noch als Journalist weiter schreiben durfte, versuchte er, nach Bulgarien zu fliehen, doch verschwand er 1948 auf der Flucht. Später bekannte ein Schmuggler, ihn an der Grenze erschlagen zu haben, doch blieb der Verdacht, dass der türkische Geheimdienst ihn zu Tode gefoltert habe. Seine Geschichte der Dissidenz und der Verfolgung findet ihr Echo in der heutigen Türkei, da unter Präsident Erdoğan wieder vermehrt kritische Intellektuelle zensiert, verfolgt und eingesperrt werden.
Meryem Selva Ince sieht in dem tragischen Ende von Sabahattin Ali einen Grund für das wieder erstarkte Interesse an dem Autor und seiner "Madonna im Pelzmantel". Aber auch die unkonventionelle Rollenverteilung zwischen dem empfindsamen, hingebungsvollen Raif und der eigenwilligen, unabhängigen Maria fasziniere viele Leser, glaubt sie. In der Türkei, wo noch immer jede zweite Ehe arrangiert ist, bediene der Roman eine Sehnsucht nach einer anderen, freieren Art der Beziehung, die nicht den gängigen Geschlechterbildern entspricht.
Gerade heute, da Präsident Erdoğan die gesellschaftlichen Freiräume immer mehr beschneidet und Frauen auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau festzulegen versucht, präsentiert der Roman ein Gegenmodell einer Liebe, die sich über Konventionen und kulturelle Grenzen hinwegsetzt – oder es zumindest versucht. Denn nicht nur zwingt Raifs Familie ihn am Ende zur Heimkehr in die Türkei, sondern Maria verzweifelt auch an ihren Ansprüchen an die Liebe und sich selbst, so dass ihre Beziehung so unerfüllt bleibt wie Raifs Leben.
Ulrich von Schwerin
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Sabahattin Ali: "Madonna im Pelzmantel", Deutsch von Ute Birgi, Dörlemann Verlag, Zürich 2008, 272 Seiten, ISBN 978-3-908777-38-0