Jagd nach Glück
Vor nichts fürchtet sich Ilham so sehr wie davor, eines Tages im Stumpfsinn des Alltags zu versinken. In eine solche Falle aus eingefahrener Routine und häuslicher Langeweile war schon ihre Mutter geraten. Ilham ist überzeugt, dass ihr früher Tod eine Folge der "faden Genügsamkeit" ihres Lebens an der Seite ihres "grässlichen" Mannes war.
Ilham will auf keinen Fall ein ähnliches Schicksal wie ihre Mutter erleiden. Sie ist 29 Jahre alt und lebt noch zu Hause. Bisher hat sie dem Druck der Familie standgehalten, sich doch endlich nach einem Ehemann umzuschauen. Zwar graut ihr davor, als "alte Jungfer" zu enden, sie träumt viel von der Liebe und vom Glück, doch "vom Heiraten hingegen nie." Stets fürchtet sie, dass ihr ein ähnliches Los wie das ihrer Mutter droht, die sich am Ende ihres Lebens "aufgelöst" hatte "wie eine kurze Gebetskette".
Das befreiende Abenteuer, auf das Ilham schon so lange wartet, scheint eines Tages unweit ihrer Wohnung Wirklichkeit zu werden, genauer gesagt einen Stock tiefer, in der Atelierwohnung des Bildhauers Munir, einem jungen Mann, den sie vom Sehen schon lange kennt und der von allen Hausbewohnern nur der "Sohn des wunderlichen Geschichtslehrers" genannt wird.
Ausbruch aus der Isolation
Ilham besucht ihn in seinem Atelier und es entspinnt sich ein Liebesverhältnis zwischen ihnen. Doch die Eintönigkeit grauer Tage wird durch ein solches Verhältnis Tür an Tür nicht wirklich aufgebrochen. Zwar genießt Ilham den Sex mit Munir für eine gewisse Zeit und bestaunt sein Reich, das voller Marmorskulpturen ist, doch schon bald merkt sie, dass Munir ihre Gegenwart kaum wahrnimmt.
Er ist ein verschlossener, narzisstischer Künstler, der sich ausschließlich mit seiner Kunst beschäftigt. Ilham beginnt sich bei ihm zu langweilen – ein Gefühl, das sie doch hasst und dem sie ja gerade entkommen wollte!
Die jordanische Schriftstellerin Samiha Khrais hat nicht nur zahlreiche Romane in ihrer Heimat Jordanien veröffentlicht, sondern arbeitet auch seit langem als Journalistin der größten jordanischen Tageszeitung.
Umso erstaunlicher ist, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrem Roman "Deine Augen - Mein Duft" fast völlig fehlt. Die Autorin verzichtet beinahe gänzlich auf eine geographisch-politische Einordnung der Handlung – der Leser nimmt kaum wahr, in welchem Land der Roman spielt (Jordanien) und welche Gegenwart darin beleuchtet wird. Dies mag natürlich daran liegen, dass der Roman im Original schon 2003 erschienen ist, lange vor den politischen Umwälzungen in der arabischen Welt.
In kurzen, dicht erzählten Kapiteln lässt Khrais ihre Heldin immer neue Anläufe unternehmen, um der gefürchteten Isolation zu entkommen. Dabei überwiegt sehr bald eine gewisse Ausweglosigkeit. Ob die eigene Einsamkeit, die Unzufriedenheit mit ihrer Familie, die unerfüllten Wünsche – alles ist von einer schwermütigen Stimmung erfüllt, die sich im Lauf des Romans erheblich verdüstert.
Spätestens ab der Hälfte der Lektüre beginnt sich der Leser um Ilham zu sorgen, die mehr und mehr ihren Halt zu verlieren scheint und sich in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Intensität verzehrt.
Protokoll eines traumatisierten Menschen
Doch die Ambition der Autorin greift weiter aus als es in der Geschichte um Ilham zunächst den Anschein hat. In einem zweiten Erzählstrang wird die Geschichte von Munirs Vater, des "wunderlichen Geschichtslehrers", erzählt. Hierbei wird deutlich, welche seelischen Abgründe, welches Maß an Verzweiflung die Autorin eigentlich im Blick hat. Auch der Geschichtslehrer ist einsam, doch seine Geschichte, die zum Teil in Ich-Form erzählt wird, ist das erschütternde Protokoll eines traumatisierten Menschen.
Der Geschichtslehrer ist ein tief verbitterter Mann, der weder zu seiner Frau noch zu seinem Sohn eine Beziehung hat und seinen Vater abgrundtief hasst. Es ist ausgerechnet Ilham, in die er sich verliebt, obwohl er sie kaum kennt. Sie ist eine reine Projektion seines Verlangens, in völliger Hoffnungslosigkeit redet er sich ein, sie sei die für ihn bestimmte Frau.
Samiha Khrais' kleiner Roman liest sich wie eine Parabel auf die Jagd nach Glück und den Versuch, der faktischen Begrenztheit des Lebens und den immergleichen, familiär verfestigten Zwängen zu entkommen. Die Autorin legt ihren erzählerischen Schwerpunkt auf die schmerzhaften Wunden tragisch unglücklicher Menschen und schildert die Schwere ihrer Konflikte, die immer dort aufbrechen, wo starke Begierden in ihrer kompromisslosen Wucht auf die Trägheit des Lebens prallen.
Offener Wahn und Persönlichkeitsspaltung
Khrais' Sprache ist poetisch ambitioniert und ungewöhnlich bilderreich, manchmal von lyrischem Ton getragen. Dieser "hohe Ton" scheint zwar bewusst intendiert, erschwert es dem Leser aber phasenweise mit der dargestellten Welt vertraut zu werden und sich mit den Figuren zu identifizieren.
Ein unaufhörlicher Gedankenstrom beherrscht die zwischen personaler und Ich-Perspektive abwechselnden Kapitel, die oft packend verdichtet sind und stellenweise zu unglaublicher Dramatik finden. Am Ende geht der Text über in eine Form von offenem Wahnsinn und persönlicher Spaltung: Der Geschichtslehrer verwüstet das Atelier seines Sohns, der ihn daraufhin in die Psychiatrie einweist.
Man muss den Wagemut des kleinen Alawi-Verlags anerkennen, diese sprachlich komplexe, hermetische Geschichte herauszubringen. Die Probleme, die der Roman behandelt, das Verlangen nach Glück, die oftmals vergebliche Suche nach dem richtigen Partner, sind gleichwohl zeitlose Themen und machen das Werk unabhängig von wechselnden Moden und Tendenzen der Zeit.
Die Autorin scheut sich nicht, einen Blick in den Abgrund des Scheiterns zu werfen. Leider muss angemerkt werden, dass der Text ungenügend lektoriert wurde und sich in die Übersetzung einige Grammatikfehler eingeschlichen haben. Trotzdem lohnt sich die Lektüre allemal, vor allem aufgrund der Intensität der Bilder und der literarischen Ernsthaftigkeit, mit der die Autorin die seelische Bedrängnis ihrer Protagonisten auszudrücken versteht.
Volker Kaminski
Samiha Khrais: "Deine Augen - Mein Duft", Roman, Aus dem Arabischen von Marei Grundhöfer, Alawi Verlag, 174 Seiten, ISBN 978-3-941822-09-2
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de