Auf dem Weg nach Hollywood
Ich glaube, es war 1992, als ich das Manuskript eines Textes in Händen hielt, das ich daraufhin prüfen sollte, ob es gut genug wäre, um in einer in Deutschland erscheinenden arabischen Literaturzeitschrift zu erscheinen. Es war ein Teil eines bis dahin nicht beendeten Romans mit dem Titel Nostalgia to the English Time, geschrieben von einem Iraker namens Samuel Shimon.
Ich kannte viele irakische und arabische Autoren und hatte die meisten von ihnen auch gelesen, doch wer war dieser Samuel Shimon, der in Paris lebte und mit einer so eigenen Stimme zu schreiben vermochte? Nicht nur war das Thema des Textes sehr bemerkenswert, er schaffte es auch, in seinem einfachen wie einzigartigen Stil Geist und Humor virtuos zu mischen.
Und noch einen anderen Grund gab es, warum mir der Text so nahe ging: die Ähnlichkeit zwischen al-Habbaniyah, wo der Autor seine Jugend verbrachte und Kirkuk, meiner Heimatstadt. Beide Städte sind multikulturell und vielsprachig. Viele Nationalitäten lebten dort seit Jahrhunderten in friedlicher Koexistenz.
Geschichten aus der Kindheit
Das Manuskript, das ich las, war von einer solch einfachen Art, dass es den Leser unmittelbar in seinen Bann zog, seine Vorstellung gefangen nahm und ihn sich hineinversetzen ließ in den zehnjährigen assyrischen Jungen und in seinen taubstummen Vater, wie er eines Nachts spät aus der Kneipe kommt.
Nicht nur dessen liebster Zeitvertreib – "Pinkeln, während Passanten vorbeigehen" – ist es, was die besondere Verbundenheit zwischen dem betrunkenen Vater und seinem Sohn verdeutlicht, sondern auch ihre Art, wortlos miteinander zu kommunizieren.
In den Geschichten aus seiner Kindheit entwirft Samuel Shimon eine Welt voller Leidenschaften und kleiner Vergnügungen. Die Familie ist so arm wie alle Familien in der Nachbarschaft, und doch beklagt sich niemand über sein Schicksal. Der Vater ist ständig, meist ohne Erfolg, auf der Suche nach einem Job, um etwas Geld zu verdienen, mit dem er seine vielköpfige Familie unterhalten kann, und hört doch nicht auf, die Königin von England zu lieben.
Wir hören den Sarkasmus der Mutter, wenn sie sagt: "Verrückt, dieser Mann liebt eine Frau, die ihn noch nicht einmal anstellen würde, um die Klos zu putzen." Überall stoßen wir auf die Armut, und doch bleibt die soziale Misere im Hintergrund.
Die Welt als Film
Wir verfolgen die Szenerie durch die Augen eines Kindes, das die ganze Welt für einen Film hält, in dem er eine Rolle spielt. Der Regisseur dieses Films ist natürlich – Gott.
Samuels Führer durch den Dschungel dieses Welt-Films ist Kyriakos, sein Meister. Wie Vergil, der in der Göttlichen Komödie Dante von der Hölle zum Paradies begleitet und ihn dabei lehrt, was er bis dahin nicht wusste, macht Kyriakos Samuel mit den Titeln amerikanischer Filme vertraut und gibt ihm, was ihn für immer mit dem Brandmal der Phantasie versehen sollte: Die Vorstellung, nach Hollywood zu kommen, als einer der großen Stars.
Er folgt seinem Traum und wacht eines Morgens auf, während sein Vater und seine Mutter, seine fünf Brüder und Schwestern noch schlafen. Er geht zu seiner Mutter und teilt ihr mit, dass er weggeht und sie ihn niemals wieder sehen würde.
"Wohin reist du, mein Sohn?"
"Nach Hollywood."
25 Jahre später wird er seine Mutter wieder treffen, nicht in al-Habbaniyah, sondern in Amerika und sie wird zu ihm sagen: "Ich bin vor dir angekommen", und ihn fragen: "Wo warst du denn all die Jahre, mein Sohn?"
Der verlorene Sohn, der schon lange zuvor den Ort ohne Wiederkehr erreicht hatte, bleibt stumm. Um die Geschichte seines Lebens zu erzählen (in Gedanken bei den Lehren seines Meisters Kyriakos), muss er es sich als Drehbuch vorstellen und sich dann als Film vor Augen führen.
Ein Iraker in Paris (der Titel erinnert uns natürlich an einen bestimmten Hollywood-Film) ist – vielleicht unbewusst – der Film, von dem der Autor seit langem träumte, den er jedoch niemals fertig gestellt hatte, eine Art Kompensation oder ein Versuch, sein Traumland zu erreichen, wenn auch mit anderen Mitteln.
Wieder denkt er an eine Prophezeiung von Kyriakos: "Sam, eines Tages wirst du ein großer Star in Hollywood sein."
Über das gesamte Buch sieht sich Samuel als Held in einem Film. Es beginnt mit seiner langen Reise in die große und unbekannte Welt, um sein geliebtes Hollywood zu erreichen; wie Odysseus, der "viel gewanderte Mann, welcher so weit geirrt" auf seinem Weg zurück zu Penelope, irrte auch Samuel umher und kam ebenso vom Kurs ab.
Mit Tricks dem Tod entkommen
In Damaskus, in Beirut, in Amman wird er verhaftet, verhört und geschlagen, tagelang, fast ohne Grund und zahlt so für seine Naivität und sein Gottvertrauen. Niemals aber sieht er das, was ihm widerfährt, als Tragödie, er weint nicht einmal.
Er nimmt sein Schicksal als Witz und hat immer, wie ein schlauer kleiner Teufel, seine Tricks, um sich selbst zu schützen. Als er in Beirut beschuldigt wird, ein syrischer Agent zu sein, damit beauftragt, die Falangisten auszuspionieren und man ihm schon die Pistole an die Schläfe hält, verteidigt er sich mit den Worten: "Ich will Filme machen! Ich bin kein Spion …, ich bin nicht wie Sie und Ihre Freunde, die Gitanes rauchen, wenn sie jemanden umbringen."
Doch er geht hier auch in eine Falle, als der Scherge ihn nach der Nouvelle Vague in Frankreich fragt, die er aber nicht kennt, weil Kyriakos nie davon erzählt hatte. Unser Held aber will seine Niederlage nicht eingestehen und schleudert ihm wahllos die Namen von Hollywoodstars entgegen. Als ihm keiner mehr einfällt, lacht der Scherge und nennt ihn "Cowboy", der Tod ist abgewendet.
Zehn Jahre auf der Straße
Ein Iraker in Paris ist nicht nur ein autobiografischer Roman, sondern auch eine Sammlung von Geschichten. Die Form des Buches erinnert uns an die traditionelle arabische Art des Geschichtenerzählens: kein zentraler plot, keine psychoanalytischen Konflikte oder Annährungen an die Charaktere. Der Erzähler, Samuel selbst, reiht eine Geschichte an die andere, wie Scheherazade in Tausendundeiner Nacht.
Was aber hervorzuheben ist, ist das Abenteuer der Reise an sich. Niemals sehen wir den Held von Ein Iraker in Paris, wie er nur still in einer Ecke sitzt und über sein Leben nachdenkt. Ständig ist er in Eile, als ob die ganze Welt nur auf ihn wartet, wie er von einem Café zur Kneipe geht und von der Kneipe zu einem anderen Café, in der Hoffnung, einen Freund zu treffen, der ihn zu einem Drink einlädt oder ihn vielleicht eine Nacht bei sich aufnimmt.
Samuel verbrachte zehn Jahre seines Lebens auf den Straßen von Paris und lernte zu überleben. Er findet sich unter Landstreichern wieder und verliert doch niemals seinen fast aristokratischen Sinn für die schönen Dinge des Lebens, für Luxus. Er kennt sich mit den besten französischen Weinen aus und raucht nur eine bestimmte Marke sehr teurer Zigaretten.
Vom Leben lernen
Freunde findet er nicht nur unter den arabischen und irakischen Schriftstellern in Paris, sondern auch unter den Barkeepern, den marokkanischen und algerischen Prostituierten und den türkischen Restaurantaushilfen. Um sein tägliches Brot zu sichern, seinen Wein und seine Zigaretten, teilt er ihr Leben, ihre Romanzen und nicht selten auch ihre Verrücktheit.
Samuel Shimon gewinnt seine Einsichten nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben, einem Leben, das ihm Kyriakos als einen spannenden Film präsentiert hatte, voll von Liebe und Humor, Freundschaft und Menschlichkeit, Träumen und Illusionen; einen Film, aus dem nun ein autobiografischer Roman geworden ist, den wir mit Freude und Bewunderung lesen.
Fadhil al–Azzawi
© Qantara.de 2005
An Iraqi in Paris, an autobiographical novel by Samuel Shimon
Translated from Arabic by Samira Kawar, Paul Starkey, Issa J. Boullata, Christina Phillips, Shakir Mustafa, Fiona Collins
Banipal Books, London 2005
£11.99, 252 pages, ISBN 0–9549666–0–0
Samuel Shimon ist Mitherausgeber von Banipal, einer englischsprachigen Literaturzeitschrift über arabische Literatur, und des dreisprachigen Webportals Kikah für arabische Kultur.
Qantara.de
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