Drohende diplomatische Eskalation
Anfang Oktober 2018 verschwand der prominente saudische Journalist Jamal Khashoggi in Istanbul. Während türkische Stellen und Khashoggis Unterstützer vorbringen, er sei während eines Besuchs im saudischen Konsulat verschleppt und vielleicht sogar ermordet worden, sagt die saudische Regierung, er habe die Vertretung unbehelligt wieder verlassen.
Kaum ein neutraler Beobachter glaubt allerdings den Beteuerungen Riads, denn der Vorfall in der Türkei schließt an eine bis dahin beispiellose Kampagne gegen friedliche Dissidenten an, die seit Mitte 2017 an Fahrt aufgenommen hat und in deren Folge Khashoggi sich entschloss, ins Exil in die USA zu ziehen.
Viele Saudis begrüßen die von Kronprinz Mohammed Bin Salman angestoßenen Reformen, hegen aber Vorbehalte gegen die mit ihnen einhergehende diktatorische Wende. Auch Khashoggi gehört zu denen, die so argumentieren. In einem Beitrag für die Washington Post vom 18. September 2017 schrieb er, dass er nicht in Opposition zur saudischen Regierung stehe und dass er wünsche, dass ihr "Vision 2030" genanntes Reformprogramm für die Wirtschaft Früchte trage.
Doch beklagte er auch, dass sein Heimatland nie so repressiv gegenüber Intellektuellen und Religionsgelehrten gewesen sei wie in den vorangegangenen Monaten, also in der Zeit, in der Mohammed Bin Salman seine Alleinherrschaft rücksichtslos ausbaute.
Jeder ist in Gefahr, der die Regierung kritisiert
Khashoggi reagierte mit diesem Meinungsartikel auf eine Verhaftungswelle, die einsetzte, nachdem die saudische und die emiratische Führung am 5. Juni 2017 ein Embargo gegen das Emirat Qatar verhängt hatten. Das prominenteste Opfer war der weit über Saudi-Arabien hinaus bekannte Gelehrte Salman al-Auda, der sich geweigert hatte, den Kurs der Regierung öffentlich zu unterstützen. Vielmehr schrieb er auf Twitter, dass er hoffe, die Führungen Saudi-Arabiens und Qatars würden sich versöhnen, worauf er verhaftet wurde.
Auda steht - wie viele der damals Inhaftierten - der in Saudi-Arabien als Terrororganisation verbotenen Muslimbruderschaft nahe, hatte in einem viel beachteten Buch zum Arabischen Frühling von 2012 allerdings deutlich liberalere Positionen vertreten. In den Folgejahren äußerte er sich aber nur noch selten zu politischen Themen, so dass seine Verhaftung im September 2017 überraschte.
Noch erstaunlicher war, dass ein Jahr später bekannt wurde, dass der Staatsanwalt in seinem Verfahren die Todesstrafe gefordert hatte, unter anderem wegen Aktivitäten in der Muslimbruderschaft. Spätestens seitdem musste jedem Andersdenkenden klar sein, dass jeder in Gefahr ist, wenn er die Regierung kritisiert.
Muslimbruderschaft als gemeinsamer Feind
Das drakonische Vorgehen im Fall Auda geht auf das schwierige Verhältnis Saudi-Arabiens zur Muslimbruderschaft zurück. Seit diese in Ägypten und Tunesien zum großen Gewinner des Arabischen Frühlings zu werden schien, arbeitet Riad an der Eindämmung der Organisation. Das konservative Königreich fürchtete, dass die Islamisten zu einer Bedrohung für die Stabilität des Regimes werden könnten.
Riad folgte dabei auch dem Vorbild der Vereinigten Arabischen Emirate, die sich schon einige Jahre zuvor entschlossen hatten, die Muslimbrüder in ihrem Land zu zerschlagen. Gemeinsam betrieben die beiden Golfstaaten den Putsch des ägyptischen Militärs gegen die herrschenden Muslimbrüder im Juli 2013, und Saudi-Arabien setzte die Organisation im März 2014 auf seine Terrorismusliste. Dies betraf den Fall Khashoggi insofern, als der Journalist zu vielen Muslimbrüdern freundschaftliche Beziehungen unterhält, auch weil er ihr als junger Mann zumindest nahe stand.
Wahrscheinlich sieht die neue Führung in Riad in ihm auch ein mögliches Bindeglied zwischen den Islamisten und Gegnern des Kronprinzen in der Herrscherfamilie. Denn Khashoggi wurde in der Vergangenheit von führenden Prinzen der Familie Saud protegiert, zuletzt von dem Unternehmer Walid Bin Talal, mit dem er noch 2016 plante, einen Fernsehsender aufzubauen. Dieser wurde aber zu einem der prominentesten Opfer der Anti-Korruptionskampagne des saudischen Kronprinzen.
Seit der Entmachtung vieler ehemals führender Prinzen dürften diese eine Rechnung mit dem Kronprinzen offen haben. Dass Khashoggi darüber hinaus in der liberalen Opposition hohes Ansehen genießt, hat ihn in den Augen der Herrschenden in Riad zu einer Gefahr gemacht.
Riad belastet Verhältnis mit westlichen Verbündeten
Vor diesem Hintergrund ist auch der Ort des Geschehens kein Zufall. Die Türkei wurde ab 2011 gemeinsam mit Qatar zur wichtigsten Unterstützerin der Muslimbrüder in der Region und hat vielen von ihnen seit 2013 Zuflucht geboten.
Für Khashoggi ist die Türkei seit 2017 zu einem der wenigen Orte im Nahen Osten geworden, in die er unbesorgt einreisen konnte; das Verhältnis zwischen Riad und Ankara hingegen hat sich deutlich verschlechtert. Die Reaktion der türkischen Regierung dürfte Saudi-Arabien deshalb gleichgültig sein. Auch das Interesse der Türkei an einer Entspannung wird nicht so groß sein, dass sie auf eine Entführung Khashoggis gelassen reagieren wird.
Probleme bereiten die Ereignisse jedoch den Verbündeten. Die USA setzen seit 2017 auf ein enges Bündnis mit Mohammed Bin Salman, mit dem sie die Feindschaft gegenüber Iran vereint. Deutschland hat gerade mühsam eine diplomatische Krise mit Riad beendet, die deutschen Unternehmen in Saudi-Arabien zu schaden begann.
Sollte sich bestätigen, dass die saudische Regierung Oppositionelle in einem NATO-Staat entführt und ermordet, müssen die Verbündeten ihren Unmut ausdrücken. Es drängt sich der Vergleich mit dem Mordversuch an dem ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal in Großbritannien auf, für den der Westen Moskau zur Rechenschaft zieht.
Die Reaktion des westlichen Bündnisses sollte dann ähnlich entschlossen ausfallen wie die nach den Geschehnissen in Salisbury. Zumindest die Ausweisung von Diplomaten wäre eine mögliche und durchaus angemessene Maßnahme.
Guido Steinberg
© Qantara.de 2018
Der promovierte Islamwissenschaftler Guido Steinberg forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu Saudi-Arabien. Der Artikel erschien zuerst auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.