Im festen Griff der Ehre

Die Ehre spielt in vielen konservativen muslimischen Familien eine große Rolle. Das führt vor allem dann zu Konflikten, wenn sich die Freiheit des Einzelnen mit den Vorstellungen der Gemeinschaft stößt – ganz extrem kann dies bei der sexuellen Selbstbestimmung muslimischer Frauen und Männer zutage treten. Von Jan Kuhlmann

Von Jan Kuhlmann

Eine muslimische Familie irgendwo in Berlin, der Vater trifft seinen Sohn. Die beiden haben sich eine Weile nicht gesehen, es ist eine herzliche Begegnung. Der Sohn erzählt, dass er heiraten will. Der Vater ist begeistert – bis er hört, für welche Frau sich sein Sohn entschieden hat. Die Auserwählte heißt Anna Schmidt und kommt aus Schweden. Vor allem aber: Sie ist keine Muslimin.

Kaum hat der Sohn das erzählt, gerät der Vater in Rage. "Ich kann's nicht glauben, dass du so etwas sagst", brüllt er. Eine nicht-muslimische Schwiegertochter – für ihn ist das unvorstellbar.

Gruppenbild der Heroes in Berlin; Foto: DW
Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre: Der Berliner Verein "Heroes" setzt sich für Gleichberechtigung und sexuelle Selbstbestimmung ein.

​​"Zwinge mich bitte nicht, mich zwischen dir und ihr zu entscheiden", bettelt der Sohn mit unsicherer Stimme. Doch damit steigert er den Ärger seines Vaters nur: "Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist. Ich habe alles für dich gegeben", fährt er seinen Sohn an. "Und du wagst es, mir etwas von einer Entscheidung zu sagen?"

Junge Muslime für sexuelle Selbstbestimmung

Diese Szene ist erdacht – aber so könnte dieser Streit tatsächlich ausgetragen werden. Ausgedacht haben sich diesen Dialog junge Muslime des Projektes "Heroes" aus Berlin-Neukölln, einem Bezirk mit hohem muslimischem Migrantenanteil.

Bei "Heroes", getragen von dem Verein "Strohhalm", setzen sich junge Männer für Gleichberechtigung und sexuelle Selbstbestimmung ein. Dafür nutzen sie Rollenspiele, in denen sie vor Schulklassen und Jugendgruppen Szenen nachspielen, die ihre Zuschauer aus dem Alltag allzu gut kennen.

Der Streit zwischen Sohn und Vater zeigt einen typischen Konflikt aus einer muslimischen Familie mit traditionellen, konservativen Normen und Werten. Weder Söhne noch Töchter sind frei in der Partnerwahl. Sie leben oft in patriarchalischen Strukturen mit festen Rollen für Frauen und Männer. "Wenn man abweicht und seine Sexualität anders leben will, dann wird das nicht akzeptiert", sagt der Psychologe Ahmad Mansour, gebürtiger Palästinenser und Gruppenleiter bei "Heroes".

Vor allem Töchter in solchen muslimischen Familien müssen sich an strenge Regeln halten. Absolut verboten sind Beziehungen vor der Ehe – von sexuellen Kontakten gar nicht zu reden. Die Jungfräulichkeit der unverheirateten Frau ist in diesen Milieus eines der höchsten Güter. Die Männer – vor allem die Väter, aber auch ihre Söhne – haben die Pflicht, sie zu verteidigen.

Strikter Ehebegriff

Hinter diesen rigiden Regeln steckt weniger ein strenger Glaube als vielmehr ein strikter Begriff von Ehre, der aus vorislamischer Zeit stammt. Sehr detailliert legt das der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak, Professor an der Uni Dortmund, in seinem gerade erschienenen Buch "Unsere Ehre ist uns heilig" dar.

Buchcover Unsere Ehre ist uns heilig, im Herder-Verlag
Detailliert und faktenreich: In dem Buch "Unsere Ehre ist uns heilig" untersucht der Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak den Ehrbegriff muslimischer Familien in Deutschland.

​​In dem Band untersucht er den Ehrbegriff muslimischer Familien in Deutschland. Früher, erklärt Toprak, sollte die Ehre Frauen vor der Vergewaltigung schützen. Der strikte Ehrbegriff hat sich bis heute vor allem aus einem Grund gehalten: Er gibt den Männern die Macht, über Frauen zu bestimmen.

Die Väter stellen die Regeln in der Familie auf und setzen sie durch. Ihre Söhne verpflichten sie dazu, auf die Schwestern aufzupassen. Doch es wäre allzu einfach, allein mit dem Finger auf die Männer zu zeigen. Sie selbst nämlich sind eingebunden in rigide gesellschaftliche Konventionen, kontrolliert vom "Dorfauge", wie "Heroes"-Mitarbeiter Ahmad Mansour es nennt.

"Die Tat an sich ist nicht wichtig", sagt er. "Wichtig ist, was die Menschen über mich sagen." Verliert die Tochter ihre Jungfräulichkeit, ist die Ehre der Familie erst dann wirklich beschmutzt, wenn das Umfeld darüber tratscht.

Das "Dorfauge" ist überall und übt enormen gesellschaftlichen Druck aus. "Die Identität der Menschen ist von der Gruppe abhängig", sagt Ahmad Mansour. "Wenn die Gruppe mich abstößt, dann fühle ich mich in meiner Existenz bedroht." Damit erklärt der Psychologe auch, warum viele Männer sehr aggressiv reagieren, wenn sie die Ehre der Familie beschmutzt sehen. Sexuelle Selbstentfaltung bleibt so ein Tabu.

Verbreitete Homophobie

Verpönt ist in traditionellen muslimischen Milieus Homosexualität. Verschiedene Studien weisen daraufhin, dass Homophobie unter konservativ-religiösen Muslimen verbreitet ist, auch wenn es keine wirklich repräsentativen Zahlen gibt. Homosexualität gilt als abnorm, sogar als Krankheit, die manche Eltern mit der Hilfe von vermeintlichen Teufelsaustreibern kurieren wollen. Das sind Imame, deren einzige Qualifikation oft darin besteht, dass sie den Koran auswendig gelernt haben.

Bei der Ablehnung von Homosexualität spielt der Glaube eine große Rolle. Wer den Islam nach traditioneller Lesart auslege, der müsse Homosexualität ablehnen, sagt der muslimische Koran-Fachmann Andreas Ismail Mohr von der Freien Universität Berlin. Er sieht unter muslimischen Rechtsgelehrten einen Konsens, dass gleichgeschlechtliche Handlungen verboten sind. Die Theologen stützen sich dabei vor allem auf die von Muhammad überlieferten Worte und Taten, die Hadithe.

Der muslimische Koran-Fachmann Andreas Ismail Mohr; Foto:
Der muslimische Koran-Fachmann Andreas Ismail Mohr sieht unter muslimischen Rechtsgelehrten einen Konsens, dass gleichgeschlechtliche Handlungen verboten sind. Die Theologen stützen sich dabei vor allem auf die von Muhammad überlieferten Worte und Taten, die Hadithe.

​​Der Koran erzählt zudem die Geschichte von Lot – sie entspricht dem biblischen Bericht über Sodom und Gomorra. In Sure 7 des Korans warnt Lot die Männer seines Volkes davor, mit anderen Männern statt mit Frauen zu verkehren. Traditionelle Theologen lesen aus dieser Passage ein Verbot der Homosexualität.

Andreas Ismail Mohr interpretiert diese Passage jedoch anders. Der Koran spreche an dieser Stelle nicht ausdrücklich von Sex, schon gar nicht von Homosexualität. Mohr hält deshalb Interpretationen für möglich, die Muslimen die Freiheit lassen zu sagen: "Ich lebe so, wie ich es für richtig halte." Zu einer flexibleren Sichtweise passt auch, dass homoerotische Erzählungen in der arabischen und persischen Literatur keine Seltenheit sind.

Ohnehin ist es eine Frage, was der Islam verbietet – und eine andere, wie die Muslime damit in der Praxis umgehen. Muslimische Organisationen in Deutschland tun sich zwar mit Homosexualität schwer, verurteilen aber Schwule und Lesben nicht.

So erklärten mehrere konservative islamische Verbände aus Berlin im Jahr 2008: "Wir sind der Überzeugung, dass die sexuelle Orientierung (…) Privatsache ist. Ob wir etwas gutheißen oder nicht, wird und kann die Freiheit des Einzelnen in keiner Weise beschränken. Für uns handelt hier jeder Mensch eigenverantwortlich und wird im Jenseits (…) vor seinem Schöpfer für sein gesamtes Handeln Rechenschaft ablegen müssen."

Komplexer Ehrbegriff

Der Ehrbegriff ist nicht nur komplex, er verändert sich auch. Der Dortmunder Professor Ahmet Toprak beobachtet dabei allerdings, dass die Jüngeren nicht zwangsläufig einen lockereren Umgang pflegen. Am tolerantesten sei die erste Generation, die mit wenigen Ansprüchen nach Deutschland gekommen sei, sagt er.

Eine viel strengere Sexualmoral beobachtet Toprak bei der Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist – und zwar vor allem dann, wenn es den jungen Frauen und Männern an Bildungswillen und Schulerfolg mangelt. Der strikte Ehrbegriff entpuppt sich hier als soziales Problem.

Da will auch das Berliner Projekt "Heroes" ansetzen. Ehre, sexuelle Selbstbestimmung, auch Homosexualität – das sind die Themen, über die die jungen Muslime von "Heroes" mit Jugendlichen reden. In Workshops wollen sie kein Richtig oder Falsch vorgeben, sondern die Jugendlichen allein zum Nachdenken bringen.

Außerdem sollen sie Konfliktlösung lernen – damit Streitereien zu Hause möglichst anders enden als im Rollenspiel. Dort brüllt der Vater den Sohn zum Schluss an: "Verschwinde gefälligst! Niemals wirst du den Segen für diese Hochzeit von mir kriegen!"

Jan Kuhlmann

© Qantara.de 2012

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de