Die "Scheicha", die Stadt und die Probleme
Wer die Bürgermeisterin von Tunis treffen möchte, muss Zeit mitbringen - viel Zeit. Der große Medienrummel ist zwar vorbei, dafür ist ihr Wartezimmer jetzt aber ganz schön voll mit Menschen, die einen Termin bei ihr wollen; Bürger, lokale Verantwortliche, Mitarbeiter der Stadt, Polizeibeamte, Aktivistinnen der Zivilgesellschaft - ja sogar der chinesische Botschafter in Tunis stattet Souad Abderrahim, der "Scheicha", einen Besuch in ihrem Büro ab. "Scheicha" ist die weibliche Form von "Scheich", einem arabischen Ehrentitel für Respektpersonen.
Die nicht mehr so neue Bürgermeisterin der tunesischen Hauptstadt ist nun im Alltag angekommen. Wer ihr Büro betritt, findet direkt links neben der Tür einen großen Konferenztisch voller Aktenordner, die auf ihre Bearbeitung warten. Die Mühen der Ebene, sozusagen. Abderrahims Wahl galt als eine kleine Sensation, die weltweit für Aufsehen sorgte. Doch jetzt, etwa ein halbes Jahr nach ihrer Amtsübernahme, muss sie Lösungen für die vielen Herausforderungen der Stadt bieten: Die marode Infrastruktur, der ständige Verkehrsstau, das Chaos der fliegenden Händler.
Müll ist ein großes Problem in Tunis
Doch vor allem will Souad Abderrahim das Müllproblem von Tunis lösen. Besonders abends türmen sich die Abfallhaufen in den Gassen der Altstadt. Wenn die Bürgermeisterin durch die Stadt geht, sprechen sie die Einwohner immer wieder auf die mangelnde Sauberkeit an. "Der Personalmangel und die logistischen Möglichkeiten erlauben uns nicht, ständig in jeder Straße und jeder Gasse von Tunis zu sein", erklärt Abderrahim. Die Stadt habe zu wenig Geld, um eine bessere Müllabfuhr zu gewährleisten. Die Scheicha will das Problem durch mehr Recycling und Partnerschaften mit privaten Investoren lösen. "Aber dazu brauchen wir neue gesetzliche Rahmen." Mit anderen Worten: Das kann dauern.
Dass eine Frau diese vielen Probleme anpacken kann, daran zweifelten viele Tunesier nach Abderrahims Wahl im Sommer 2018. Denn sie ist nicht nur die erste Frau, die dieses Amt bekleidet, sondern sie ist in Sfax geboren und nicht in Tunis, gehört also nicht zu den Elite-Familien der Hauptstadt, die traditionell den Bürgermeister stellten.
Ihr fehle der Stallgeruch für ein solches Amt. "In Tunesien herrscht immer noch eine patriarchale Mentalität vor, besonders in manchen Positionen, die mit Macht verbunden sind. Als hätten Männer Macht gepachtet, als hätten sie öffentliche Verwaltungsämter gepachtet", sagt Abderrahim. Dabei genießen tunesische Frauen verglichen mit anderen arabischen Ländern mehr Rechte. Trotzdem, so die Bürgermeisterin, gebe es in Tunesien keine Chancengleichheit für Männer und Frauen. Ihre Wahl zur Bürgermeisterin nennt sie deshalb einen "Sieg der tunesischen Frauen", denn man habe dadurch mit "Tabus" und "Traditionen gebrochen, die zum Gesetz gemacht worden waren."
Kritik kommt von Frauenrechtlerinnen
Doch tunesische Feministinnen stehen Abderrahim skeptisch gegenüber. Die Frauenrechtlerin Leila Chebbi sagt, alle die sich für mehr Gleichberechtigung einsetzen, fänden es prinzipiell gut, dass eine Frau nun dieses hohe Amt bekleide. Doch Abderrahim ist nicht durch ihr eigenes Verdienst Bürgermeisterin geworden. Sie sei keine Kämpferin für Frauenrechte, denn "Tunesien ist klein, alle Kämpferinnen für Frauenrechte kennen sich untereinander", so Chebbi, "die Ennahda-Partei hat sie ins Amt gehievt. Das politische Gewicht der Ennahda hat ihr dazu verholfen."
Chebbi, wie viele andere Frauenrechtlerinnen, werfen Souad Abderrahim vor, sich von der islamisch-konservativen Ennahda-Partei instrumentalisieren zu lassen. Denn die Bürgermeisterin kandidierte auf der Ennahda-Liste und setzte sich gegen ihren Gegner von der als säkular geltenden Partei "Nidaa Tounes" durch. Ennahda wolle ihr Image aufpolieren, so Chebbi, indem sie eine Frau zur Wahl stellte: "Die Partei ist aber gegen den Fortschritt. Sie will die Rechte, die sich Frauen erkämpft haben, sogar wieder rückgängig machen".
Als Beispiel nennt Chebbi die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Erbrecht. Ein neuer Gesetzesentwurf der Regierung soll es erlauben, dass Frauen genau so viel erben können wie Männer. Nach islamischem Recht allerdings steht der Tochter in der Regel die Hälfte dessen zu, was dem Sohn zusteht. Momentan ist das Thema in Tunesien heftig umstritten. Für die Frauenrechtlerin ist das ein Testfall für die Bürgermeisterin; deren Partei sei nämlich gegen die Gleichberechtigung im Erbrecht. Daran soll sich laut Chebbi zeigen, ob Abderrahim tatsächlich für die Sache der Frauen kämpfe, oder innerhalb des ideologischen Rahmens der Ennahda-Partei bleiben müsse.
"Keine Politik im Stadtrat"
Aber genau das will Abderrahim nicht: sich politisch positionieren. Immer wenn die Rede von ihren Kritikern und Widersachern ist, wird sie weniger konkret, nennt keine Namen und greift niemanden an. Als Bürgermeisterin versteht sich die 54-Jährige eher als Verwaltungsbeamte. Der Stadtrat sei eine exekutive Verwaltungsbehörde, sagt Abderrahim und fügt hinzu: "Wir brauchen nicht noch mehr politische Konflikte innerhalb des Stadtrats".
Den Vorwurf, die Ennahda-Partei benutze die Bürgermeisterin, um durch ein Hintertürchen ihre islamistische Agenda einzuschleusen, weist Abderrahim entschieden zurück. Nein, im Stadtrat sollen alle harmonisch zusammenarbeiten, von einer ideologisch gefärbten Agenda der Bürgermeisterin könne man nicht sprechen.
Viel lieber möchte Abderrahim über ihre Ziele im neuen Amt sprechen. Immer wieder lenkt sie das Gespräch auf das Thema "kommunale Verwaltung". Tunesien solle die Dezentralisierung verankern und nicht mehr wie bisher zentralistisch verwaltet werden. Die Bürgermeisterin will den Kommunen und Stadträten mehr Autonomie geben. "Der Zentralismus war es, der die Menschen in Tunesien zum Rebellieren gebracht hat. Er hat große Unterschiede zwischen den Regionen geschaffen. Dezentralisierung ermöglicht mehr Gerechtigkeit."
"Sie zieht in einen Krieg"
Doch wie sie das schaffen will, bleibt offen. Sie selbst sagt, sie habe die Befürchtung, sich zu sehr "vom Tagesgeschäft ablenken zu lassen und die langfristigen Ziele aus den Augen zu verlieren." Die angespannte politische und wirtschaftliche Lage, in der sich Tunesien seit dem Ausbruch der Revolution vor neun Jahren befindet, erschwert ihre Arbeit.
Immer wieder erlebt das kleine nordafrikanische Land heftige Protestwellen, vor allem in den ärmeren Regionen des Südens. Die Menschen demonstrieren gegen die hohe Arbeitslosigkeit, die Korruption und die aufgeblähte Bürokratie. Die kommunalen und regionalen Verwaltungsstrukturen in dieser prekären Situation grundlegend umzukrempeln, wird sicherlich keine leichte Aufgabe.
Auf der belebten Avenue Habib Bourguiba mitten in Tunis scheinen viele Jugendliche und junge Menschen den Namen Souad Abderrahim nicht zu kennen. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich eher weniger für Probleme der Kommunalverwaltung begeistern können.
Trotzdem bekommt die Scheicha einige Vorschusslorbeeren von den Passanten, die sie kennen. Sie sind stolz, dass Tunis jetzt von einer Frau regiert wird und internationale Medien fleißig darüber berichten. Eine Frau sagt, ihr sei egal, ob Abderrahim zur islamisch-konservativen Ennhada-Partei gehöre; "Wir sind doch alle Muslime", erklärt sie, „Hauptsache man ist nicht fundamentalistisch".
Eine ältere Dame mit Kopftuch und großer Sonnenbrille ist vorsichtig mit ihrem Urteil: "Souad Abderrahim ist noch nicht so lange im Amt, sie muss sich erst beweisen. Das wird nicht einfach für sie. Denn Tunesien erlebt momentan eine kritische Zeit, das Land ist sehr fragil. Die Bürgermeisterin zieht in eine Schlacht, in einen großen Krieg".
Nader Alsarras
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