Lebensende fern der Heimat
Der bislang letzte Patient, den Hussam Khoder begleitete, rührt ihn noch heute. Nach Monaten. Der ehrenamtliche Hospizbegleiter schildert den Fall des kaum siebenjährigen Jungen N. 2019 kam der Vater mit seinem schwerkranken Sohn N. aus dem Irak nach Deutschland, über das Meer, auf langen Wegen. Der Vater war gezielt nach Deutschland geflohen. Hier, hoffte er, würde man seinem krebskranken Sohn vielleicht retten können.
Als N. schließlich in der Berliner Klinik lag, riefen die Ärzte beim Ambulanten Lazarus Hospizdienst an. Schon, weil es an sprachlicher Verständigung fehlte, brauchte er Hilfe. "Der Vater hat seinen Jungen auf dem Rücken nach Deutschland getragen. N. war schon zu schwach. Eine Horrorgeschichte", erzählt Hospizbegleiter Khoder.
Der 48-Jährige Berliner, als Kind palästinensischer Eltern im Libanon geboren und als Zweijähriger nach Deutschland gekommen, engagiert sich seit sieben Jahren beim Ambulanten Lazarus Hospizdienst in der deutschen Hauptstadt. Khoder weiß, was es bedeutet, wenn Menschen die letzte Etappe ihres Lebens beschreiten; wie sie begleitet werden wollen.
Als es ans Sterben ging
Der ehrenamtliche Helfer dolmetschte bei Ärzten und Pflegern, half bei einem Hospizplatz für den Jungen, las beiden in Arabisch aus dem Koran vor. "Anfangs konnte man noch mit dem Jungen reden, etwas spielen", erinnert sich Khoder, der selbst zwei Kinder hat. "Irgendwann war ich mehr der Begleiter des Vaters als von N. Das Kind war oft schon abwesend." Auch die Chemotherapie half nicht.
In der letzten Lebensphase des Kindes, als es ans Sterben ging, sorgte Khoder mit dem Team des Dienstes dafür, dass die Mutter aus dem Nordirak einreisen durfte. Sie konnte ihn während seiner letzten Wochen begleiten. Im März reiste sie heim, ihr Sohn im Sarg ebenfalls an Bord des Flugzeugs. "Am Ende haben wir uns gegenseitig getröstet", sagt der Helfer. Dann erzählt er, dass verstorbene Kinder für gläubige Muslime Engel seien, "die das Beste erwartet bei Gott".
Khoder ist Medizinisch-Technischer Laborassistent. Fragt man, wie er zur Hospizarbeit und zum Ambulanten Lazarus Hospizdienst kam, erzählt er von einem Zettel, der 2013 in seiner - wie er sagt - "eher liberalen Moschee" am Schwarzen Brett hing. Er sprach mit dem Imam darüber. "Der Islam", sagt er, "wertet die Bereitschaft zur Hilfe für Kranke sehr hoch. Das hat mich angesprochen."
Der Zettel war vom Ambulanten Lazarus Hospizdienst. Khoder meldete sich dort und begann eine Ausbildung zum Sterbebegleiter. Viele hat er schon begleitet, längst nicht nur Kranke aus dem arabischen Kulturkreis. Seine erste Begleitung, acht Monate lang, galt einem deutschen Mann. Acht Monate, in denen der Mann kaum mehr anderen Besuch hatte.
Viele Sprachen, viele Biographien
Beim Ambulanten Lazarus Hospizdienst kümmert sich Elizabeth Schmidt-Pabst um ehrenamtliche Kräfte wie Khoder. Die Amerikanerin, ausgebildete Krankenschwester, lebt seit über 20 Jahren in Berlin. Sie koordiniert und begleitet. Und wenn sie vom Projekt "Am Lebensende fern der Heimat" erzählt, wird deutlicher, wer alles "kultursensible Sterbebegleitung" benötigt: Flüchtlinge wie der junge N., Vietnamesen, die schon lange in der Stadt leben, Roma, die in einer Obdachlosen-Einrichtung wohnen, einsame alte Migranten in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Und so sprechen viele Mitarbeitende des Hospizdienstes nicht nur Deutsch, sondern auch Arabisch oder Türkisch, Englisch oder Polnisch.
"Wenn man uns anruft", sagt die 43-Jährige, "geht es oft darum, dass jemand allein ist. Und man braucht jemanden, der Muttersprachler ist. Denn die größte Herausforderung ist die Sprache, nicht die Religion."
Schmidt-Pabst berichtet, dass aber letztlich ein weiteres Problem anstehe. Schwierig seien unterschiedliche Erwartungen an das Gesundheitssystem. Deutschland setzt auf Maximalmedizin. Aber man wisse auch, dass Medizin nicht alles schaffe und irgendwann statt maximal medizinisch palliativ gearbeitet werde: Dann würden nicht mehr die Ursachen einer Krankheit, sondern der Schmerz behandelt. "Das zu vermitteln ist oft eine große Herausforderung."
Das Ehrenamt als Säule
2019 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes knapp 940.000 Sterbefälle registriert. Jeden Tag sterben rund 300 Menschen in deutschen Krankenhäusern. Rund 30.000 Menschen pro Jahr verbringen ihre letzte Lebensetappe in einem Hospiz. Der Anteil der Migranten, die vielleicht nur eigene, andere Traditionen kennen, ist nicht genau erfasst. Der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband hatte in seinem "Bundes-Hospiz-Anzeiger" zuletzt mehrfach über "kultursensible Befähigungskurse" für ehrenamtliche Hospizmitarbeitende berichtet.
Der Ambulante Lazarus Hospizdienst in Berlin, eine Einrichtung der Hoffnungsthaler Stiftung Lobetal, ist einer von mehreren Hospizdiensten der deutschen Hauptstadt, der sich auf "kultursensible Begleitung" spezialisiert hat. Die Kosten für einen Hospizplatz (stationär) übernimmt die Kranken- bzw. Pflegekasse zu 95 Prozent, die restlichen 5 Prozent werden von Spenden durch den Hospiz selbst generiert. Die Patienten müssen lediglich ein sogenanntes vom Arzt ausgefülltes "Hospizgutachten" vorlegen und krankenversichert sein.
Die Leistungen eines ambulanten Hospizdienstes sind für den Patienten ebenfalls kostenlos. Dazu gehören Beratung, Begleitung, Vermittlung eines Arztes, ehrenamtliche Hilfe und/oder Pflegedienst, Angebot eines Trauercafés. Ein Teil dieser Arbeit wird von den Krankenkassen refinanziert. "Die Ehrenamtler sind die Hauptsäule der ambulanten Hospizarbeit", sagt die Expertin. "Wir suchen immer Ehrenamtler. Allen Hospizdiensten geht es so." Manchmal müsse einer dann auch mal zwei Patienten begleiten.
Die Zahlen steigen
In vielen deutschen Großstädten gibt es vergleichbare etablierte Angebote. Lazarus betreut ambulant pro Jahr laut Schmidt-Pabst rund 150 Menschen, die im Sterben liegen. Von den aktuell laufenden Betreuungen hat etwa jeder vierte einen Migrations-Hintergrund. "Die Zahlen steigen", sagt sie. Der Bedarf wohl auch. Und Hussam Khoder sagt, auch in muslimischen Familien wandele sich das Konzept, dass zu Hause gepflegt oder gestorben werde und viele Kinder zur Pflege bereitstünden. "Es bröckelt langsam".
Seit zehn Jahren liegt die "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland" vor, von rund 50 Institutionen getragen. Ihr wesentlicher Kern: Im Mittelpunkt steht immer der betroffene Mensch. 2017 befasste sich eine Expert*innen-Runde des Bundesfamilienministeriums besonders mit interkulturellen Aspekten.
Im Nachgang legten Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttinger kürzlich eine umfassende Handreichung zur Frage "interkultureller Hospiz- und Palliativversorgung" vor. Denn weiterhin sei es laut ersten Erhebungen so, dass weniger Patienten und Patientinnen mit Migrationshintergrund das entsprechende Versorgungsangebot nutzten, als wohl statistisch zu erwarten sei. Die Wissenschaftler betonen den Bedarf an Dolmetschern oder Sprachkompetenz, Sensibilität und Offenheit im Umgang mit jeden einzelnen Menschen, den "kreativen Umgang mit Sterbesituationen im interkulturellen Zusammenhang".
Ein neues Modell?
Ein neues, bislang vermutlich bundesweit einmaliges Modell geht derzeit in Offenbach an den Start. Die Muslima Rabia Bechari, die seit 2011 als Krankenhaus- und Notfallseelsorgerin arbeitet und bei christlichen Trägern ausgebildet wurde, gründete 2018 mit anderen den Verein "Barmherzige Begleitung - Kultur- und Religionssensibles Hospiz- und Palliativteam".
"Bis März haben wir die ersten 15 ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater ausgebildet. Als die Ausbildung abgeschlossen war, kam Corona." Bechari jedenfalls sieht für ein solches Angebot in muslimischer Trägerschaft "sehr hohen Bedarf". In vielen Familien lebten zuhause nun ältere Eltern, die auch dort sterben wollten. "Es ist allerhöchste Zeit, dass man was macht."
Christoph Strack
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