"Lieben Sie Deutschland?"
Ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt prägen Deutschland zunehmend. Sie verändern nicht nur das Bild in den Städten, sondern auch das nationale Selbstverständnis. Über 16 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund leben in Deutschland, das ist etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Ein Großteil dieser Zugereisten, rund 9 Millionen, besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Ein Viertel von ihnen sind Muslime.
Eine neue Studie der Forschungsgruppe "Junge Islambezogene Themen in Deutschland (JUNITED)" im Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität hat untersucht, welche Folgen die Realität einer Einwanderungsgesellschaft für die nationale Identität der Deutschen hat.
Für die Studie "Deutschland postmigrantisch" hat eine interdisziplinäre Forschungsgruppe unter der Leitung der Soziologin Naika Foroutan mehr als 8.200 Personen in ganz Deutschland über ihre Einstellung zu den Themen Gesellschaft, Religion und Identität befragt.
Verbunden mit Deutschland
Es ist eine der breitesten wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema bisher. Abgeschlossen wurde sie im April 2014 – also noch bevor der Islamische Staat mit seinem brutalen Wüten in Syrien und im Irak in den Massenmedien präsent war. Ob die Ergebnisse zu einem späteren Zeitpunkt anders ausgefallen wären, darüber kann man nur spekulieren.
Nach der Befragung hat ein Großteil der Menschen eine positive Einstellung zu Deutschland. Wichtigster historischer Bezugspunkt ist für die meisten nicht mehr die NS-Vergangenheit, sondern die Wiedervereinigung. Die meisten Migranten fühlen sich Deutschland genauso emotional verbunden wie diejenigen ohne Migrationshintergrund: Über 80 Prozent aller Befragten haben auf die Frage "Lieben Sie Deutschland?" mit Ja geantwortet.
Migranten fühlen sich zu großen Teilen deutsch (77 Prozent) und identifizieren sich genauso mit dem Land. "Wir sehen hier deutlich, dass sich die nationalen Identitätsbezüge wandeln und ausweiten – immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Namen anders klingen und ihre Vorfahren nicht immer hier lebten", kommentiert Jan-Hendrik Olbertz, Präsident der Berliner Humboldt-Universität die Ergebnisse. Dies sei eine grundlegend neue Situation in Bezug auf die Definition nationaler Identität.
Ressentiments gegen tiefe Religiosität
Trotzdem kommt die Studie insgesamt zu ambivalenten Ergebnissen. Ja, es gibt eine gewisse Offenheit in diesem Land gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen.
Aber es gibt genauso massive Vorbehalte gegen sie, vor allem dann, wenn es sich um Muslime handelt und diese mit ihrem religiösen und kulturellen Selbstverständnis konkret sichtbar werden. Also zum Beispiel, wenn sie mit dem Wunsch nach sichtbaren Moscheen aus den Hinterhöfen hinaus in die Öffentlichkeit treten wollen. Oder wenn Frauen Kopftücher tragen und damit auch in der Öffentlichkeit erkennbar ihre islamische Identität leben.
Wer deutsch sein will, der müsse vor allem die deutsche Sprache beherrschen, findet eine überwältigende Mehrheit von 97 Prozent der Befragten. Außerdem wird die deutsche Staatsangehörigkeit als besonders wichtig eingestuft (rund 80 Prozent). Diese beiden Kriterien für Deutschsein sind offen, jeder der hier lebt, kann sie erwerben.
Wer Kopftuch trägt, kann nicht deutsch sein
Abweisend ist es hingegen, wenn ein nicht unerheblicher Teil der Befragten (37 Prozent) auch "deutsche Vorfahren" für wichtig hält. 38 Prozent halten es außerdem für wichtig, dass Frauen auf das Tragen eines Kopftuchs verzichten. Wer Kopftuch trägt, kann danach nicht deutsch sein.
Auf der einen Seite finden 68 Prozent der Interviewten, dass Muslime mehr Anerkennung erfahren sollten. Und 69 Prozent halten es für richtig, wenn es islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen gibt. Aber gleichzeitig ist beinahe die Hälfte dafür, Lehrerinnen das Tragen eines Kopftuchs in der Schule zu untersagen. Deutlich mehr als die Hälfte (60 Prozent) würde die Beschneidung von Jungen verbieten. 42 Prozent möchten den Bau von öffentlich sichtbaren Moscheen einschränken – was auch immer das genau heißen soll.
"Das Selbstverständnis der Offenheit findet seine Grenzen, wenn es konkret wird", schreiben die Autoren der Studie. Wenn Muslime ihre kulturelle und religiöse Selbstbestimmung einfordern, dann sind sie doch wieder das Andere, das Gegenüber zu einem deutschen "Wir" und werden von rund einem Drittel der Befragten als "aggressiver" und "weniger bildungsorientiert" eingestuft.
Weit verbreitete Stereotype
Die Stereotype reichen bis weit in die Mitte der Gesellschaft, sie sind nicht einem Anteil von Menschen mit ohnehin rechtslastigem und islamfeindlichem Weltbild vorbehalten. Für Studienleiterin Naika Foroutan verschärft sich "die Qualität der Abwertungen, die auch aus der Mitte der Bevölkerung kommen".
Daher ist es nicht verwunderlich, dass manche Politiker der Versuchung erliegen, diffuse Vorbehalte mit populistischen Forderungen zu bedienen und vorhandene Ressentiments gezielt auszunutzen. Diese Vorbehalte gedeihen vor allem dann, wenn Menschen nur wenig Kontakt zu Muslimen haben. Dort, wo es realen Kontakt mit muslimischen Nachbarn oder Arbeitskollegen gibt, existieren weniger negative Zuschreibungen.
Wer aber keinen Kontakt zu Muslimen hat, neigt auch dazu, ihre Zahl zu überschätzen. Nur rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung sind muslimischen Glaubens – allerdings meinen fast zwei Drittel der im Rahmen von "Deutschland postmigrantisch" Interviewten, es wären deutlich mehr.
Je mehr die Zahl der Muslime überschätzt wird, desto ausgeprägter ist die Neigung, sie für bedrohlich zu halten. Etwa 30 Prozent derjenigen, die den Anteil von Muslimen in der deutschen Gesellschaft für viel zu hoch halten, bejahen die Aussage "Muslime bedrohen viele Dinge, die ich in dieser Gesellschaft für gut und richtig halte".
Das ist keine bloße Theorie. Konkret greifbar wird dieses Phänomen momentan in Dresden. Dort demonstrieren seit einigen Wochen regelmäßig Tausende für eine Begrenzung der Aufnahme von Flüchtlingen und gegen eine vermeintliche "Islamisierung des Abendlandes" in einem Teil von Deutschland, in dem der Anteil der Muslime bei unter einem Prozent der Bevölkerung liegt.
Claudia Mende
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