Die Schatten der Vergangenheit
Als sich Zahl und Identität der Mordopfer von Paris abzuzeichnen begannen, spürten die Moderatoren des französischen Radiosenders France Info intuitiv, dass sie dieses Ereignis historisch einordnen müssten. Hierbei begannen die Schwierigkeiten: "Es handelt sich um das blutigste Attentat in der französischen Geschichte", meinte ein Journalist. "Das blutigste Attentat der vergangenen Jahrzehnte", formulierte es seine Kollegin vorsichtiger. "Das mörderischste Attentat seit über 50 Jahren", präzisierte ein Dritter. Doch welches Datum meinte er damit?
Was sich am 17. Oktober 1961 in Paris ereignet hatte, war kein Attentat im wirklichen Sinn. Es war eher eine Hetzjagd, an deren Ende mehr als 100 leblose Körper in der Seine trieben. Der Täter war die Staatsmacht, unterstützt von französischen Bürgern und Aktivisten einer bestimmten politischen Couleur. In den Medien fand dieses Massaker überhaupt keine Erwähnung. Es wurde schlicht totgeschwiegen.
Die Opfer waren Algerier, die von ihren Mördern beschuldigt wurden, Anhänger des "Front de Libération Nationale" (FLN) zu sein. Es war die Bewegung, die das Ende der 130-jährigen Kolonialherrschaft Frankreichs über das riesige Gebiet in Nordafrika herbeiführen wollte.
"Algérie française" als nationales Selbstverständnis
Diese historische Entwicklung lief damals dem französischen Konsens entgegen. Es schien unvorstellbar, dass Algerien, das in Form dreier Départements der unteilbaren Republik einverleibt worden war, sich von Frankreich lossagen könnte.
Von den Konservativen bis zu den Kommunisten erstreckte sich in dieser “Schicksalsfrage” die Einheit der Nation. Hunderttausende französischer Sodaten versuchten, den Aufstand in Nordafrika zu brechen. Und es war kein anderer als François Mittérand, der damals als Justizminister Dutzende Hinrichtungen und systematische Folter gegen FLN-Aktivisten absegnete.
Kritisch hinterfragt wurde die nationale Einigkeit über die "Algérie française" nur von ganz wenigen Franzosen. Zum Beispiel von Intellektuellen wie dem Philosophen und Romancier Jean-Paul Sartre, der vor allem für die Zeitschrift "Les Temps Modernes" schrieb. Als Reaktion zensierte und beschlagnahmte die Staatsmacht zeitweise das Blatt.
Wer sich heute in Selbstgewissheit wiegt, die Meinungs- und Pressefreiheit mache seit geraumer Zeit "unser Wertesystem" aus, muss sich wegen jener Vorgänge in der jüngeren Geschichte Frankreich eine gewisse Oberflächlichkeit vorwerfen lassen.
Europas 9/11?
Nach den jüngsten Mordtaten der Brüder Kouachi und ihrer Komplizen fragt alle Welt nach der Rolle des Islam. Alle rücken zusammen um den Konsens, dass der Islam ja keine Aufklärung gekannt habe und dass diese Religion deshalb regelmäßig brutale Mörder gebäre – blutrünstige Rächer aus einer präzivilisatorischen Evolutionsstufe. Der 7. Januar 2015 sei daher nichts anderes als der europäische 11. September. Daraus ergeben sich dann schnell Schlussfolgerungen, die Gesetze zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus zu verschärfen. FN-Chefin Marine Le Pen forderte gar die Wiedereinführung der Todesstrafe auf französischem Boden und die Beendigung der Einwanderung muslimischer Migranten nach Europa.
Die Schwierigkeit liegt darin, dass bestimmte Tatsachen zu diesen überzogenen Forderungen und falschen Debatten verleiten. Gewiss hatten die Mörder Bezüge zu sunnitischen Extremisten im Maschrek und im Jemen. Sie hatten ihre Rachemotive geäußert, wonach sie ihre Opfer aus einer "universellen Glaubensfrage" heraus niedermähten. Die Sache scheint klar: Die Mörder gehören zur "Internationale des islamistischen Terrors".
Doch in diesen omnipräsenten Gewissheiten gehen andere Überlegungen unter. Es stellt sich nämlich die Frage, ob wir für die Analyse der Morde von Paris allein die Äußerungen heranziehen sollten, mit denen die Islamisten ihre Taten begründeten: "Allahu akbar, wir haben den Propheten gerächt." Und sollten wir uns darauf beschränken, dies mit einigen Fakten zu untermauern, die sich auf die Tatvorbereitung beziehen: "Ich war bei Al-Qaida im Jemen"?
Kinder der französischen Kolonialgeschichte
Viel wichtiger als das, was die Mörder äußerten und wen sie zur Vorbereitung an welchen Orten trafen, ist für die Ursachenanalyse, um welche Täter es sich handelt: Said und Chérif Kouachi sind zwei in Frankreich geborenen Söhne algerischer Migranten. Damit sind sie Kinder der französischen Kolonialgeschichte. Dieses Kapitel war äußerst blutig und zeitigte entsetzliche Folgen, die bis heute andauern.
Eine Begleiterscheinung des Algerienkrieges von 1954 bis 1962 war die massive Übersiedlung von Algeriern nach Frankreich, nicht zuletzt mit Hilfe von Kollaborateuren in den Reihen der französischen Armee und Polizei. Konkret waren diese Migranten Kinder eines über Jahrzehnte ausgeklügelten Apartheidsystems.
Im Vergleich zu den türkischen "Gastarbeitern" in Deutschland war es für die algerischen Migranten schwieriger, in Frankreich Anschluss an die Gesellschaft zu finden. Die "Integration" der nordafrikanischen Einwanderer – also die Aufarbeitung des kolonialen Erbes – ist in Frankreich besonders schlecht gelungen.
Pakt mit Algeriens Generälen
Erschwerend kam hinzu, dass die spezifisch algerische Form des Islamismus seit den 1980er Jahren in Gestalt der "Islamischen Heilsfront" (FIS) über das Mittelmeer in die Migrantenmilieus herüberschwappte. Die algerischen Islamisten richteten sich gegen die Herrschaft der Generäle in Algier, die Erben des FLN. Diese Generäle hatten ihren Frieden mit Paris gemacht und konnten sich der Unterstützung der französischen Regierung sicher sein, als sie mit brachialer Gewalt gegen die Islamisten vorgingen.
Was die Brüder Kouachi über die französische Kolonialgeschichte in Algerien dachten, ist nicht bekannt. Es wäre daher spekulativ zu behaupten, die Mörder hätten sich aufgrund der französischen Kolonialgeschichte rächen wollen. Weitsichtige Politiker würden allerdings erkennen, dass es nicht ausreicht, die Bluttat von Paris allein mit der "islamistischen Internationale des Terrors" und ihrem ideologischen Wirken zu erklären.
Die Fehler in der französischen Integrationspolitik der 1950er und 60er Jahre sind gewiss nicht mehr rückgängig zu machen. Es kommt aber nun darauf an, die katastrophalen Spätfolgen dieses Erbes, die Ausgrenzung und Benachteiligung der nordafrikanischen Migranten und ihrer Nachkommen, schrittweise und kontinuierlich zu beseitigen.
Das wird nur möglich sein, wenn die Entscheidungsträger und Meinungsmacher die Lage in Frankreichs Ghettos mehr als ein soziales denn als ein identitäres Problem begreifen.
Stefan Buchen
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Stefan Buchen ist Fernsehautor für das ARD-Magazin Panorama.