Opfer des Friedens
Als 2007 in Nahr al-Bared Kämpfe zwischen Mitgliedern der radikal-islamistischen Fatah al-Islam und der libanesischen Armee ausbrachen, mussten die etwa 30.000 Bewohner des Camps rasch fliehen.
Und als die Gefechte dann vorüber waren, machte sich die libanesische Armee daran, die Zerstörung des "alten Lagers", des am dichtest besiedelten Kerns, zu vollenden: mit wohl durchdachten Plünderungen, Brandstiftungen und Vandalismus.
Mögliches Motiv hierfür war zunächst gewiss der allgemein verbreitete Hass der Libanesen auf diejenigen Palästinenser, die sich noch an die Gewalttaten erinnerten, die von palästinensischen Kräften während des Bürgerkriegs in ihren Gemeinden verübt wurden.
Doch kam noch eine besondere Wut hinzu, die daraus resultiert, dass die Bewohner des Camps es zuließen, dass die Fatah al-Islam dort Fuß überhaupt fassen konnte und so Gelegenheit bekam, mehr als 160 Libanesen zu töten, wie sie hinterher stolz verkündete.
Widerstreitende Pläne für das Camp
Sehr gut möglich ist auch, dass die Zerstörung des Flüchtlingscamps sogar von langer Hand geplant war — als erster Schritt zu seiner völligen Auslöschung oder um zumindest beim Wiederaufbau ein Wort mitreden zu können.
Mehr als zwei Jahre nach Ende der Kämpfe leben die Bewohner des Lagers in unwürdigen Verhältnissen und warten noch immer auf die Erlaubnis, endlich mit dem Wiederaufbau beginnen zu können. Doch bis heute wird ihnen noch nicht einmal der Zugang zu den Ruinen gewährt.
Die Gründe sind vielfältig: Die zahlreichen Kräfte innerhalb der politischen Elite des Landes verfolgen unterschiedliche Interessen, wenn es um die Zukunft des Flüchtlingslagers geht. Einige hoffen, den Wiederaufbau mit der Errichtung eines Armeestützpunkts, einer Flottenbasis und zweier Polizeistationen verbinden zu können, wobei die Zahl und Größe der Häuser so stark reduziert würde, dass es auch noch möglich wäre, breite Straßen zu bauen.
Dadurch bekäme die libanesische Armee mit ihren Fahrzeugen ungehinderten Zugang und die Sicherheitskräfte könnten ihre Autorität noch robuster durchsetzen, und das in einem Areal, das zuvor autonom verwaltetet worden war.
Andere wiederum, so etwa die "Freie Patriotische Bewegung" (FMP), angeführt von General Michel Aoun, scheinen entschlossen, das Camp gar nicht mehr aufzubauen. Erst vor kurzem verlor die FMP einen Gerichtsprozess, mit dem sie den Wiederaufbau verhindern wollte, vorgeblich, um beim Beseitigen von Trümmern gefundene Ruinen aus der Römerzeit zu schützen.
Natürlich ist Aouns Sorge um die Altertümer nur vorgeschoben. Während des Bürgerkriegs hatten seine Truppen schon das Lager Tel al-Zaatar zerstört und Tausende seiner Bewohner getötet, was ihn in den Augen seiner Anhänger zum "Helden von Tel al-Zaatar" machte.
Seit der Gerichtsentscheidung gab es zwar einige Versuche des Wiederaufbaus (einige Zementfundamente wurden aufgegossen), doch angesichts der vielen Fehlschläge in der Vergangenheit, bleiben die meisten skeptisch.
Nahr Al-Bared ist das fünfte palästinensische Lager im Libanon, das zerstört wurde. Keines der anderen konnte jemals wieder aufgebaut werden.
Institutionelle Diskriminierung
Laut Ghassan Abdullah, dem Generaldirektor der "Palestinian Human Rights Organization" (PHRO) im Libanon, haben die sunnitischen Muslime, welche die Mehrheit der fast 400.000 im Libanon lebenden Palästinenser stellen, trotz der seit 2005 veränderten Rhetorik der Regierung noch immer mit institutionellem Rassismus zu kämpfen. Grundlegende Menschenrechte werden ihnen versagt.
Noch immer müssen sie in menschenunwürdigen Unterkünften leben, bekommen keinen Zugang zu staatlichen Versorgungseinrichtungen, haben mit komplexen Gesetzeshürden bei der Arbeitssuche zu kämpfen und dürfen keine Immobilien besitzen.
Außerdem können libanesische Frauen, die mit sunnitischen Palästinensern verheiratet sind, keine Immobilien vererben, und auch die libanesische Staatsbürgerschaft können sie nicht an ihre Kinder weitergeben.
Abdullah fügt hinzu, dass die Behandlung der Palästinenser durch die Libanesen weit hinter denen in anderen arabischen Staaten zurückbleibt. So genießen sie in Syrien die gleichen wirtschaftlichen Rechte wie die Syrer selbst. In Jordanien bekommen sie Reisepässe und sind sogar an der Regierung beteiligt. Glaubt man Ghassan Abdullah, verfügen selbst die Palästinenser im besetzten Westjordanland über bessere Lebensbedingungen und haben mehr Rechte als im Libanon.
Der Hauptgrund für die schlechte Behandlung der Palästinenser ist die Sorge, dass permanente palästinensische Siedlungen das libanesische System der "konfessionellen Demokratie" erschüttern könnten.
Dieses System regelt genau, wie viele Sitze im Parlament und wie viele Positionen in der Regierung jeder einzelnen Religionsgemeinschaft im Lande zustehen. Der Präsident muss ein maronitischer Christ sein, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Sprecher des Parlaments schiitischen Glaubens.
Und so geht die Sorge um, dass die Berücksichtigung von 400.000 Sunniten (und damit 10 Prozent der libanesischen Bevölkerung) dieses fein ausbalancierte System aus den Angeln heben könnte.
Schuldzuweisungen
Eines der schwierigsten Probleme, mit denen Gruppen wie die PHRO zu kämpfen haben, ist das komplexe Netzwerk von Allianzen und Rivalitäten, das die libanesische Politik auszeichnet.
Ein Beispiel: Während die gegenwärtig regierende prowestliche Koalition vom "14. März" von der sunnitischen "Zukunftsbewegung" geführt wird, auf die ein Großteil der freundlicheren Sprachregelung gegenüber den Palästinensern zurückgeht, finden sich in ihr auch christliche Parteien, wie die "Forces Libanaises" und die "Kata'ib-Partei" (die Falangisten), so dass die Zukunftsbewegung den Repräsentanten der Palästinensern oft genug raten muss, ihre Sache nicht allzu vehement zu vertreten, will sie nicht die Unterstützung der Partei verlieren.
Ähnlich sieht es in der Opposition aus, wo schiitische Parteien, wie die Amal-Bewegung und die Hisbollah (von denen im Bürgerkrieg erstere selbst erbittert gegen die Palästinenser kämpfte), zwar erklären, dass sie einer Verbesserung der Lebensbedingungen für die Palästinenser generell nicht im Wege stünden, dass ihnen jedoch durch die Allianz mit Aouns FMP (als Teil des Blocks vom "8. März") die Hände gebunden seien.
Ghassan Abdullah hält dies allerdings für einen Vorwand und glaubt, dass sie sich hinter der vehementen Opposition Aouns nur verstecken würden, um einer echten Diskussion über das Problem aus dem Wege zu gehen. Sollten Aoun und seine Partei keine Rolle mehr spielen, würde die beiden schiitischen Parteien wahrscheinlich selbst eine härtere Linie verfolgen, meint Adullah.
All dies brachte die PHRO dazu, ihre Gesprächsangebote verstärkt an die christlichen Parteien zu richten, eine Politik, die bisher kaum Früchte trug, da die Parteien allzu oft und zu unvorhersehbar ihre Positionen wechseln oder es ihnen nicht gelingt, sich auf eine gemeinsame Haltung zu verständigen.
Große Kluft zwischen Anspruch und Realität
Diese Situation der allgemeinen Verwirrung veranlassten Ghassan Abdullah und seine Kollegen von der PHRO, die Staaten, die sie finanziell unterstützen (darunter EU-Staaten wie Deutschland, Großbritannien und die Niederlande), dazu zu drängen, größeren Druck auf die libanesische Regierung auszuüben. Doch tut sich hierbei eine große Kluft zwischen Anspruch und Realität auf.
Der zweite Artikel des 2006 ausgehandelten Europa-Mittelmeer-Assoziationsabkommen fordert, wenn auch ohne ausdrückliche Erwähnung der Palästinenser, eine Verbesserung der Menschenrechtssituation im Libanon. Allerdings wurde bisher nichts unternommen, um dieser Forderung auch Nachdruck zu verleihen. Und die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sind, wenn sie mit dem Libanon auf bilateraler Ebene zu tun haben, sogar noch viel zurückhaltender.
So veröffentlichte die PHRO jüngst ein Positionspapier, in dem das Recht der im Libanon lebenden Palästinenser auf Arbeit ebenso angemahnt wurde, wie das Recht auf eigenen Grundbesitz. Auch wurde das Anrecht von Nachkommen libanesischer Frauen und palästinensischer Männer zur Weitergabe der Staatsbürgerschaft unterstrichen.
Heikle Themen wie das Recht auf Bewegungsfreiheit und Versammlungsfreiheit wurden bewusst ausgespart, da diese zu leicht mit dem Verweis auf Sicherheitsbedenken abgelehnt werden könnten. Während die EU-Delegation sich bereit zeigte, das Papier zu unterstützen, kamen von den einzelnen EU-Staaten jedoch bisher noch keine entsprechenden Signale.
Austin Mackell
© Qantara.de 2010
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Qantara.de
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