“Leidensgeschichten sind sexy“

Seit der Flüchtlingskrise 2015 ist das Interesse an syrischer Literatur in deutscher Übersetzung stark gestiegen. Aber interessiert sich das Publikum wirklich für ihre Geschichten oder sieht man in ihnen vor allem die Opfer eines grausamen Konflikts? Von Mari Odoy

Von Mari Odoy

In den vergangenen fünf Jahren gab es einen ein regelrechten Boom an syrischer Literatur in deutscher Übersetzung. Auch wenn es keine genauen Daten über die genau Zahl der verlegten Büchern gibt, ist die intensive Aufmerksamkeit für syrische Autor*innen in ganz Berlin spürbar.

Aber hat dieses zunächst einmal positive Interesse an syrischer Literatur auch zu neuen Begrenzungen geführt? Der syrisch-palästinensische Autor und Journalist Ramy Al-Ascheq (geb. 1989), sagt, die Nachfrage bei den Verlagen nach seiner Arbeit sei in den letzten vier Jahren definitiv gewachsen. "Aber das Problem ist, dass Verlagshäuser und Publikum nicht wirklich an der Literatur oder der arabischen Sprache interessiert sind,“ meint Al-Ascheq, "sondern nur an bestimmten Ländern, in denen Konflikte bestehen und in denen es sexy Geschichten gibt." Viele Autor*innen fühlten sich unter Druck, vor allem "aktuelle Ereignisse" zu verarbeiten, anstatt literarisch hochwertige Werke zu schaffen.

"Sie sagen: 'Zeig uns, wie sehr du auf deinem Weg nach Europa gelitten hast und wie gut Europa ist'“, meint Al-Asheq. "Sie wollen etwas über den syrischen Konflikt wissen, weil dort gerade etwas passiert.“ Es gehe also nicht um Literatur, sondern um aktuelle Ereignisse. "Ich finde das nicht sehr progressiv, denn viele Autor*innen haben angefangen, das zu schreiben, was Europäer*innen erwarten und was sie lesen wollen."

Schriftsteller*innen beschreiben diesen Druck, über die syrische Krise zu schreiben - sei es als Roman, Erzählung, Lyrik oder in Form von persönlichen Erfahrungsberichten – als müsse der Konflikt zwangsläufig zentraler Referenzpunkt für ihr Schreiben sein. Darüber hinaus ist auch die Gleichsetzung der eigenen Erfahrung von Migrant*innen mit ihrer Literatur allgegenwärtig im Literaturbetrieb.

"Wenn du etwas schreibst, kannst du dich hinter deiner Arbeit und deinen Analysen verstecken,“ sagt der Schriftsteller Yassin Al-Haj Saleh (geb. 1961) "Ich hingegen bin immer da, selbst wenn ich nicht da bin und nicht über meine Geschichte schreibe und es dabei kein 'Ich' gibt, wie in den meisten meiner Werke.“ Trotzdem betrachte man sie als seine Geschichte. "Ich will, dass meine Arbeit beurteilt wird und nicht die Biografie auf der Rückseite des Buchcovers."

Die Geschichten müssen konsumierbar sein

Syrische Autor und Politikwissenschaftler Yassin Al-Haj Saleh. Foto: privat
Überzeugt von ihrer akademischen Überlegenheit: Europäer*innen denken, „sie geben die Theorien und damit die Deutungshoheit vor," meint Yassin Al Haj Saleh. "Europäer*innen beurteilen, wer als gut und wer als böse gilt. Wenn sie die Wahl haben zwischen einem Faschisten mit zotteligem Bart und einem Faschisten mit Krawatte, dann bevorzugen sie den Faschisten mit Krawatte. Ich denke, dass dies eine gute Definition für Rassismus ist. Bis jetzt gibt es keinen wirklichen Dialog über diese Frage."

Wissenschaftler*innen haben festgestellt, dass insbesondere arabische Autorinnen mit ihren Texten identifiziert werden und diese dann als repräsentativ für die Situation aller arabischen Frauen gilt. So ist es auch bei den Geschichten migrantischer syrischer Autor*innen und der Welle von syrischer Literatur, die heute auf den Buchmarkt kommt. "Ich bin heute wegen meines Schicksals berühmt, dabei ist dies immer eine Übertreibung," sagt Yassin Al-Haj Saleh. Seine Geschichte werde immer so verpackt, dass sie für ein Publikum konsumierbar ist, das nach "sexy Leidensgeschichten" sucht.

Wer seine Schriften lediglich als "Narrative des Überlebens“ liest, ohne darüber  hinauszugehen, sei "rassistisch",  meint Al-Haj Saleh. Der promovierte Politikwissenschaftler bedauert, dass er zwar in seinen Werken politische Analysen liefern wolle, seine Texte aber oft auf bloße Erfahrungsberichte reduziert würden. "Wir können Zeitzeugen*innen sein, wir können unsere eigenen Geschichten erzählen,“ sagt er. "Das Publikum ist hungrig nach unseren Geschichten, aber eben nur als Berichte von Augenzeugen und nicht als Theorie oder Konzept zu einem Phänomen."

Immer seien es die Europäer*innen, die denken, "sie geben die Theorien und damit die Deutungshoheit vor." Niemand stelle diese Vorstellung von akademischer Überlegenheit in Frage. "Europäer*innen beurteilen, wer als gut und wer als böse gilt. Wenn sie die Wahl haben zwischen einem Faschisten mit zotteligem Bart und einem Faschisten mit Krawatte, dann bevorzugen sie den Faschisten mit Krawatte. Ich denke, dass dies eine gute Definition für Rassismus ist. Bis jetzt gibt es keinen wirklichen Dialog über diese Frage."

Die ins Deutsche übersetzte syrische Literatur sei laut Al-Haj Saleh meist wenig hochwertig und stamme von jungen Menschen, die über ihre persönlichen Erfahrungen berichten wollen.

"Ich meine damit nicht, dass alle syrischen Schriftsteller*innen schlecht sind,“ sagt er. Sehr viele von ihnen seien durchaus annehmbar oder auch kreativ. "Aber einige Autor*innen produzieren eine Literatur, die von der Erwartungshaltung in Deutschland diktiert wird. Ich fürchte, vieles von dem, was ins Deutsche übersetzt wird, ist nicht besonders interessant.“

Brutale Gewalt ist auch exotisch

Für Al-Haj Saleh sollten Schriftsteller*innen vor allem zeigen, dass sie gute Literatur schreiben können, "auch wenn sie aus einem armen, exotischen Land wie Syrien kommen.“ Für westliche Leser*innen sei an der brutalen Gewalt in Syrien immer auch etwas Exotisches. Für sie ist Syrien eben ein Land, in dem Muslim*innen und Islamist*innen vollkommen außer Kontrolle geraten sind. Der Buchmarkt, der diese "orientalistischen“ Wünsche der westlichen Leser*innen befriedigen will, sei in erster Linie verantwortlich für eine Flut von teilweise literarisch unbefriedigenden Werken.

Auch andere Schriftsteller*innen setzen sich mit der Frage auseinander, wie sie sich aus der  Verortung des "Syrers als Opfer“ lösen können.

"In der arabischen Lyrik wurde am meisten über Themen wie die Liebe und den Alkohol geschrieben. Vor der Revolution gab es diesen Hang nicht, sich als Opfer darzustellen,“ sagt der Autor und Journalist Yamen Hussein (geb. 1984), der seit vier Jahren in Deutschland lebt. "Es gibt viele Dichter*innen, die ihren eigenen Opferstatus in den Vordergrund stellen und betonen: 'Ich bin arm, ich bin ein Flüchtling'. Das ist nicht gut, weil sie in dieser Opferrolle stecken bleiben werden."

Der aus Damaskus stammende Konzeptkünstler und Kulturaktivist Khaled Barakeh beobachtet dieses Phänomen ebenfalls: Egal ob syrische Autor*innen über die Liebe oder über "etwas ganz Alltägliches" schreiben würden –  das Erzählte stets mit der Flüchtlingskrise verbunden und durch eine "orientalistische Brille" gelesen. Für Barakeh wirkten sich diese Erzählungen nicht nur auf das aus, was Autor*innen künstlerisch leisten könnten, sondern auch auf ihre gelebte Erfahrung. Geschichten über Flucht würden zu einem regelrechten Fetisch – auf dem Papier, aber auch im realen Leben.




 

Zur Verdeutlichung erzählt Barakeh, wie er einmal mit einigen Freund*innen seines Mitbewohners Abendessen ging und was sich abspielte, als er erwähnte, dass er aus Syrien stammt:

"Sie machten mitleidige Gesichter und fragten dann: 'Was ist deine Geschichte?', denn natürlich erwarteten sie, dass jede*r die gleiche Geschichte hat, weil die Medien immer die dramatischsten und traurigsten Geschichten bringen,“ sagt Barakeh. Das deutsche Publikum würde erwarteten, dass jede*r über das Mittelmeer geflüchtet ist. "Also habe ich alle traurigen Geschichten, die ich je gehört hatte zu einer gruseligen Story zusammengebastelt. Meine Erzählung war lückenhaft, aber tatsächlich fing das Publikum an zu weinen. Das war wirklich lustig... und dann gestand ich ihnen, dass das gar nicht stimmt.“ Es tue ihm leid, sagte er den Zuhörer*innen, aber er sei einfach mit dem Flugzeug gekommen. "Vollkommen langweilig. Ich habe einfach Online ein Ticket gekauft, bin ins Flugzeug gestiegen und dann ist es in Berlin gelandet."

Manche Literatur zementiert die "koloniale Attitüde“

Obwohl diese Anekdote humorvoll daherkommt, veranschaulicht sie doch das, was Barakeh als "koloniale Attitüde" bezeichnet, die man im Westen gegenüber Syrien und der arabischen Welt im Allgemeinen einnimmt. Danach nimmt man das Arabische vor allem als von Gewalt, Rückständigkeit und Leid bestimmt wahr. Solche Vorstellungen, meint Barakeh, würden durch die Literatur, die auf den Markt kommt, weiter zementiert. Auch Übersetzungen würden die Narrative in diesem Sinne verändern.

Ramy Al-Asheq nennt zudem die Verallgemeinerungen, die sein tägliches Leben als Person des öffentlichen Lebens schwer machen: "Wenn ein Terroranschlag geschieht, muss ich Stellung beziehen. Ich muss mich entschuldigen – aber warum sollte ich mich entschuldigen,  das ist doch nicht meine Schuld. Aber ja, man wirft dir immer wieder diesen Blick zu: 'Die Araber, das sind doch deine Leute'."

Caroline Assad, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation „Wir machen das“ in  Berlin, die Exil-Literatur von Migrant*innen herausgibt, sagt, sie sei zwar selbst keine Autorin, aber "als Nicht-Deutsche fühle ich mich in eine bestimmte Ecke gedrängt und muss mich auf jeden Fall mit Migrationsdebatten auseinandersetzen.“

Ihre Organisation versuche mit dem Projekt Weiter Schreiben, "das Bewusstsein der europäischen Leser*innen zu verändern". Sie möchte, dass das deutsche Publikum zu Lesungen kommt und "eine Geschichte über Migrant*innen erwartet, die über das Mittelmeer hierherkamen, aber dann eine*n Autor*in entdeckt, der oder die eigentlich ein*e Künstler*in ist und völlig anders, als sie sich das vorgestellt haben."

Die Entdeckung des "Anderen"

Was fasziniert westliche Leser*innen an den Geschichten syrischer Geflüchteter? Ich habe die Autor*innen gefragt, warum westliche Leser*innen wohl ihre Werke lesen wollen. Sie empfinden dabei teilweise "Sympathie für die wohlmeinenden Leser*innen“, aber auch "Wut über ihre orientalistische Sichtweise“. Ramy Al-Asheq verspürt eine gewisse Frustration über das mangelnde Bewusstsein des westlichen Publikums für die arabische Welt.

"Es gibt viel mehr Unwissenheit auf Seiten des westlichen Publikums über die arabische Sprache und Literatur und die arabische Welt allgemein als umgekehrt Unwissenheit von unserer Seite über den Rest der Welt,“ sagt er. "Hier gibt es keine Entschuldigung für die Europäer*innen, denn die Informationen sind ja vorhanden. Wie kann man so ignorant sein und somit Teil eines großen Problems sein und sagen, man wisse das nicht?"

Caroline Assad, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation WIR MACHEN DAS. Foto: Juliette Moabes
For a shift in European consciousness: the Berlin-based Weiter Schreiben project seeks to address people's internal biases. Translator and publisher Caroline Assad, who is involved in managing the initiative, asserts that she wants German audiences to come to readings "expecting a story about a migrant who came here across the Mediterranean, but then see an author who is actually an artist"

Andere, wie etwa Caroline Assad, sehen den westlichen Hunger nach syrischen Geschichten als eine immerhin gut gemeinte Auseinandersetzung mit dem Konflikt und der Region.

"Vieles an diesem Interesse ist gut gemeint,“ sagt Assad. "Ich denke, es ist Teil der Reaktion in Deutschland, von den Deutschen selbst, die versuchen, ihre deutschen Mitbürger*innen weiterzubilden.“ Es gebe eine Fixierung darauf, wie arm und traurig es anderswo ist, und dass wir uns dadurch vielleicht ein bisschen besser fühlen würden. "Aber ich sehe auch ein echtes Bedürfnis zu verstehen und dieser Krise und dem "Anderen" aufrichtig zu begegnen."

Während heute eine gewisser Fixierung auf den Konsum von syrischen "Leidensgeschichten" besteht, gab es bereits in der Vergangenheit verschiedene Wellen, jeweils von politischen Entwicklungen beeinflusst, die die Trends bei den deutschen Literaturübersetzung verschoben haben, darunter Ereignisse wie der libanesische Bürgerkrieg und die Interventionen der USA im Irak.

Die amerikanische Übersetzerin Marilyn Booth meint, dass beim Boom der Übersetzungen von Literatur aus der Gattung "Rettung muslimischer Frauen" in den USA "ästhetische Gründe selten der Grund für die Auswahl arabischer Texte für die Veröffentlichung waren.“ Vielmehr wären innenpolitische Belange und wirtschaftliche Interessen auf diesem besonderen literarischen Marktplatz ausschlaggebend.

Heute ist Yasmina Jraissati die einzige Literaturagentin mit dem Schwerpunkt arabische Literatur. Sie bringt arabische Autor*innen mit Übersetzer*innen und Verleger*innen europäischer Sprachen zusammen. Ihrer Erfahrung nach hat das Interesse an syrischer Literatur in Europa infolge des syrischen Bürgerkriegs "definitiv zugenommen".

Sie lobt die Verlage in erster Linie, erzählt, dass verschiedene Verlage auf sie zukommen und nach "einem großen relevanten arabischen Buch" verlangen würden. Heute würden vor allem die Geschichten syrischer Autor*innen als relevant wahrgenommen, eine Zeitlang seien dies eher die Erzählungen von Autor*innen aus dem Irak gewesen, meint Yamen Hussein:  "Am Ende gibt es immer Namen, die Aufmerksamkeit erregen, weil sie von Verleger*innen gut präsentiert werden. Heute gibt es einen "Boom" syrischer Literatur – diesen Aufschwung gab es auch vorher schon mal mit den Erfahrungen der irakischen Geflüchteten“, meint Hussein. "Es kam zu einem Hype um viele irakische Schriftsteller*innen, so wie jetzt bei den syrischen Autor*innen, aber jetzt kann ich mich nur noch an die Namen von zwei irakischen Schriftsteller*innen erinnern."



 

Wie wird es nun weitergehen mit der syrischen Literatur in Deutschland? Die Literaturagentin Jraissati vermutet, dass "dieser Boom nur kurz sein wird, weil es keinen wirklichen literarischen Anreiz gibt." Nach einer Weile, würden sich die Menschen langweilen, denn für diejenigen, die nicht wirklich an der Literatur interessiert seien, wiederholen sich die Geschichten. "Nach einer Weile werden sie das Gefühl haben zu wissen, worum es im Konflikt geht."

Jraissati glaubt, dass dieses Phänomen dennoch auch die Chance bietet, dass einige neue Bücher entstehen. Aber "auf lange Sicht wird dieser kurzzeitige Boom die arabische Literatur nicht zum Leben erwecken. Im Moment ist es also die syrische Welle, aber ich sehe bereits, wie sie anfängt, abzuebben." Das Interesse am Syrien-Konflikt bedeute kein echtes Interesse an der Region oder der Sprache. "Vielleicht werden die Werke irgendwann das Interesse der Menschen wecken, vielleicht werden sie Türen öffnen. Aber garantiert ist das nicht."

Mari Odoy

© dis:orient 2021

Dieser Artikel erschien zuerst in Arablit Quarterly in englischer Sprache und wurde von dis:orient ins Deutsche übersetzt.