Wie eine Revolution zustandekommt
Im September 2022 war die junge Kurdin Mahsa Jina Amini, 22 Jahre alt, zu Besuch in der iranischen Hauptstadt Teheran. Am Nachmittag des 13. September wird sie von den Sittenwächtern festgenommen, weil ihr Kopftuch nicht den Kleidungsvorschriften entsprechend gesessen haben soll. Ein Vorgang, wie er täglich im Land passiert. Die von Präsident Mahmud Ahmadinedschad (2005-2013) eingeführte Sittenpolizei soll im Alltag kontrollieren, ob die Kleidung vermeintlich islamischen Regeln folgt, ob bestimmte Verhaltensnormen eingehalten werden und vieles mehr. Bei Verstößen kann es eine Verwarnung geben, eine Geldstrafe oder auch Gefängnis. Oft sind die Strafen willkürlich.
An diesem Tag wenden die Kontrolleure bzw. die Polizei, der die junge Frau übergeben wird, brutale Gewalt an und sie stirbt. Behörden und Regime weisen die Verantwortung von sich, versuchen, sich mit Lügen aus der Sache herauszureden, wie so oft. Doch es funktioniert nicht mehr.
Der Bruch zwischen Bevölkerung und Regime ist nicht mehr zu kitten. Aus Umfragen und aus der Verweigerungshaltung bei Pseudowahlen, bei denen wirklich oppositionelle Politiker im Vorfeld aussortiert werden, lässt sich ablesen, dass heute weit über achtzig Prozent der Iraner das Regime ablehnen.
Wie entstand der zündende Funke?
Nach Aminis Tod kommt es im ganzen Land und quer durch alle Bevölkerungsschichten zu Protest und Demonstrationen. Wie schon in den Jahrzehnten zuvor reagiert das Regime mit blanker Gewalt. Hunderte werden getötet, Tausende inhaftiert, es werden Todesstrafen verhängt.
Aber wie kam es, abgesehen vom zündenden Funken an jenem 13. September, zu dieser Situation, die von Oppositionellen im In- und Ausland seither konsequent "Revolution“ genannt wird? Es ist eine komplexe Geschichte von gesellschaftlichen und politischen Elementen und Ereignissen, die sich seit der Islamischen Revolution von 1979 immer weiter hochgeschraubt haben.
Die in Frankreich lebende Bestsellerautorin und Comiczeichnerin Marjane Satrapi ("Persepolis“) hat eine Gruppe von Zeichnerinnen und Autoren aus mehreren Ländern, nicht nur aus Iran, versammelt und mit ihnen gemeinsam das gerade bei Rowohlt erschienene Buch "Frau, Leben, Freiheit“ kompiliert. Darin schickt sie sich an, in Form kurzer Episoden nicht nur die aktuelle Lage im Land, sondern auch die erwähnten Hintergründe aufzubereiten.
Und das gelingt hervorragend. Herausgekommen ist eine Graphic-Episodennovel mit teils dokumentarischem Charakter, die sich in die Untiefen des heutigen Iran begibt und leicht verständliche Einblicke auch für Menschen bietet, die bislang wenig über das Land wissen. Gleichzeitig führt sie aber auch all jenen, die Iran kennen, neue Aspekte vor Augen.
"Zeit für Einigung über Menschenrechte"
Nach der Einigung im Atomstreit sollte sich der Westen künftig mehr der iranischen Zivilgesellschaft und der Einhaltung der Menschenrechte in der Islamischen Republik widmen, fordert Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Gespräch mit Shahram Ahadi und Mitra Shodjaie.
Tiefe Eingriffe ins Privatleben
Sie verdeutlicht die Dynamiken dieser vor allem von Frauen angetriebenen Bewegung, die sich einem Regime entgegenstellt, das schon lange nur noch für den eigenen Machterhalt kämpft und dabei all die islamischen Werte, die es wie eine Monstranz vor sich herträgt, ad absurdum führt.
Neben kurz erzählten Geschichten von Menschen, die das Regime ermorden ließ, weil sie ihre demokratischen Rechte wahrnehmen wollten, gibt es einen Abriss der jüngeren Geschichte ebenso wie Schlaglichter auf die Mechanismen von Zensur und Propaganda.
Außerdem informiert die die Graphic Novel über die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen und den zwischen ihnen bestehenden Spaltungen und bietet eingängige Einblicke in die Funktionalität einzelner Teile des Regimes vom Revolutionsführer über die Religionsgarden mit ihrer Wirtschaftsmacht bis hin zu den paramilitärischen Truppen – die nicht nach der nachrichtenmedialen Unart "Sicherheitskräfte“, sondern "Repressionskräfte“ genannt werden, was auch ihrer tatsächlichen Rolle faktisch entspricht.
Noch einmal versteht man, wie ganz simple Dinge zu einem revolutionären Akt werden, der potentiell lebensgefährlich ist: Sei es, dass Frauen ihre Haare offen tragen, Paare Händchen halten oder Freunde sich abends auf ein Bier zu guter Musik treffen.
Denn all das ist verboten. Letztlich sind es diese andauernden tiefen Eingriffe ins Privatleben der Menschen, die zum Bruch geführt und dafür gesorgt haben, dass das Regime im eigenen Land weitgehend isoliert ist und sich hinter seiner Privatarmee und einem gigantischen Propaganda- und Spitzelapparat verstecken muss.
Es ist ein Regime, das nicht einmal davor zurückschreckt, Schülerinnen zu vergiften, die in der Schule kleine Protestaktionen wagen – und sei es nur, einen Slogan an eine Tafel zu schreiben.
Aus den deutschen Medien ist Iran nach dem Abflauen der ersten großen Demonstrationen zum letzten Jahreswechsel wieder weitgehend verschwunden – das ist die Dynamik der Aufmerksamkeitsökonomie. Man könnte dadurch den Eindruck bekommen, dass wieder einmal ein Aufstand im Land gescheitert ist, vom Regime niedergeschlagen und zusammengeschossen wurde, dass die lange bekannten Repressions- und Einschüchterungstaktiken weiterhin funktionieren.
Doch das ist ein Missverständnis. Im Kontrast etwa zu den Studentenaufständen von 1999 oder der Grünen Bewegung von 2009 hat sich viel verändert. Es gibt heute eine junge Generation, die nichts anderes kennengelernt hat als die Enge im Land, die vergiftete Atmosphäre, die ständigen Einschränkungen, und die als Kontrast über das Internet mit der ganzen Welt und ihren Freiheiten vernetzt ist. Diese Generation ist für Khamenei, Raisi und co verloren, und zwar vollständig.
Es ist eine Generation, die sich binnen kürzester Zeit den Respekt ihrer Eltern und Großeltern erarbeitet hat, weil sie ohne Angst einfach weitermacht. Sie baut kleinen Protest in ihren Alltag ein und erzählt der Welt via Social Media davon. Auch das alles klingt durch in Satrapis Buch, an dem sich unter anderen auch der Historiker Abbas Milani und der Politikwissenschaftler Farid Vahid beteiligt haben.
"Das Regime wird fallen, weil es in den Köpfen der Menschen längst tot ist“, sagt Satrapi. Man möchte hoffen, dass sie Recht behält.
© Qantara.de 2023
Marjane Satrapi, Frau, Leben, Freiheit, Rowohlt Verlag 2023