Tschetschenien – Die Hintergründe des blutigen Konflikts
Das Gebiet um das es geht, ist gerade einmal so groß wie Schleswig-Holstein. Und offiziell herrscht dort kein Krieg. Jedenfalls, wenn man dem russischen Präsidenten Putin Glauben schenkt. In Wirklichkeit aber sind dort seit 1994 weit über 100.000 Menschen in einem brutalen Krieg getötet worden.
Abgeschirmt von der europäischen Öffentlichkeit vollzieht sich im nördlichen Kaukasus eine brutale Auseinandersetzung zwischen der russischen Armee und tschetschenischen Rebellen. Ein Konflikt, der die tschetschenische Bevölkerung traumatisiert und in ganz Russland fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen anheizt. Das Tschetschenien-Komitee - rund ein Dutzend Ärzte und Wissenschaftler - will den Konflikt erneut ans Licht ziehen und hat ein Buch zu den Hintergründen herausgegeben.
Faule Kompromisse
Zurückgekehrt aus Tschetschenien, beantworten die Autoren in dem schmalen, bei Diederichs erschienenen Bändchen "Tschetschenien" die wichtigsten Fragen zum Krieg im nördlichen Kaukasus. Kompakt und kenntnisreich informiert sie die Leser über Gründe und Hintergründe, über die Rolle der Islamisten, des Erdöls und die russische Desinformationspolitik.
Doch auch Europa hat seine Verantwortung für die Entwicklung im Kaukasus. Und es hat aus Sicht der Autoren durch den eigennützigen und unaufrichtigen Umgang mit dem Thema bereits einige Chancen verspielt.
So habe der Europarat in der Tschetschenien-Frage durch seine inkonsequente, die Realität negierende Einstellung politischen Selbstmord begangen, meint das Tschetschenienkomitee und erklärt: "Tatsächlich ist die Zusammenarbeit zwischen dem Europarat und Russland zu einem Selbstzweck geworden, der alle Arten fauler Kompromisse rechtfertigt." Das Thema Tschetschenien werde entweder ignoriert oder lediglich in Aktionsprogrammen erwähnt.
Al-Kaida und russisches Geld
Die Wissenschaftler geben Antworten auf zentrale Fragen, die in den westeuropäischen Medien häufig falsch beantwortet sind - zum Beispiel auf die Frage: "Ist Tschetschenien eine Front des weltweit propagierten Islamismus geworden?" So jedenfalls möchte es die russische Führung gerne sehen. Sie hat ihren Kampf gegen die tschetschenischen Rebellen nach dem 11. September 2001 zum Teil des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus erklärt. Doch wie steht es um die Verbindung zwischen tschetschenischen Kämpfern und Terrorzellen der Al Kaida?
Kein Zweifel: In ihrer Propaganda beziehen sich Vertreter von Al Kaida gerne auf Tschetschenien und stellen entsprechende Bezüge her. Doch beschränken sich diese Kontakte nach Ansicht der Verfasser vor allem auf Kontakte des islamistischen Warlords Chattab, der - bis zu seinem Tod 2002 - für den Geldfluss aus dem Mittleren Osten und den Golfstaaten nach Tschetschenien verantwortlich war. Der größte Teil der Gelder allerdings - und nahezu alle Waffen - stammt aus Russland selbst. Und russische Politiker finanzierten radikale islamistische Ideologen, die heute von Katar aus arbeiten.
Popularität und Propaganda
Ein Beispiel ist der tschetschenische Ideologe Mowladi Udugow. Ihm stellte der russische Oligarch Beresowski noch im Jahr 1996 Gelder für den Aufbau einer TV-Station zur Verfügung. Angesicht dieser wenig erklärlichen Toleranz der russischen Führung gegenüber den Wahhabiten, lässt sich vermuten, dass diese bewusst - zum Zwecke und im Interesse - der russischen Führung aufgebaut wurden.
Dass die politische Destabilisierung im Kaukasus Teil des Erfolgs von Putin im Jahr 2000 war und auch heute noch einen wichtigen Teil seines Images und seiner Popularität ausmacht, lässt diese Deutung naheliegend erscheinen.
Ein gut lesbares kompaktes Buch, das mit den wichtigsten Vorurteilen, Verallgemeinerungen und Vereinfachungen aufräumt, welche - im übrigen aktiv gefördert durch den geschickten Propaganda-Apparat der russischen Regierung - durch europäische Medien wabern und den Blick verstellen.
Ute Schaeffer
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2005
Tschetschenien-Komitee
Tschetschenien
Diederichs, 2004
ISBN 3-7205-2526-0
18.95 EUR