Zeitenwende am Golf
Die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über Staaten der Arabischen Halbinsel und vor allem die sechs Golfmonarchien hat in den vergangenen zehn bis 15 Jahren an Fahrt gewonnen.
Einerseits untersucht die interdisziplinäre Nahostforschung eine sich verändernde Rolle der Golfstaaten in der Region des Nahen und Mittleren Ostens, die selbstredend auch mit innenpolitischen Stressfaktoren und Umbrüchen zusammenhängt. Der Islam- und Politikwissenschaftler Sebastian Sons bezeichnet diese Umbrüche treffend als die Neuerfindung von Gesellschaften, die alte Gewissheiten über Bord werfen (S.14).
Andererseits haben futuristische Entwicklungsvisionen und ein "ehrgeiziges Ego der Herrschenden“ (S.17) auch die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit erregt. Denn für viele Beobachterinnen und Beobachter wirft es Fragen auf, wenn Milliarden in den nationalen und internationalen Fußball investiert und internationale Großveranstaltungen in die Region geholt werden. Mit den Asiatischen Winterspielen 2029 in Saudi-Arabien wird zudem ein eigenwilliges Narrativ transportiert, das (klimatisch) Unmögliche möglich zu machen.
Auf der Suche nach einer neuen Identität
Diese von mir oben vorgenommene Differenzierung in zwei Literaturströmungen überwindet der Autor in seinem neuen Buch mühelos. Sons legt ein feines Gespür an den Tag, um Wissenschaft und die breitere Öffentlichkeit zu einer Zielgruppe des Buches zusammenzuführen. Er vermag es, komplexe historische Ausgangsbedingungen aufzuarbeiten und damit gegenwartsbezogene Widersprüche aufzulösen.
Diese Vorgehensweise ist auch deshalb gelungen, weil der Autor seine Erfahrungen von zahlreichen Aufenthalten in der Region anekdotisch einbezieht und dabei nie das sichere Fundament der korrespondierenden wissenschaftlichen Debatte verlässt. Hier hätte er allerdings für einen besseren Lesefluss auf die eine oder andere feinkörnige Referenz verzichten können.
Vorzüglich legt er dar, wie die Gesellschaften auf der Arabischen Halbinsel mehrere Transformationen gleichzeitig durchlaufen und dabei auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Gleichzeitig spielen tradierte Praktiken der Vergangenheit weiter eine Rolle und werden auch von den Herrschaftseliten zum Zwecke der eigenen Machtsicherung instrumentalisiert.
Die Region mit all ihren Verflechtungen
Sons überwindet dabei eine veraltete "Container-Logik“, wonach der Nahe und Mittlere Osten als isolierter Gegenstand zu betrachten wäre. Nein, er begreift die Region in all ihren transregionalen Verflechtungen, berücksichtigt umsichtig signifikante Verschiebungen und Umbrüche der internationalen Ordnung und konterkariert damit so manche vorschnelle, zumeist eurozentrische Einordnung der Region als "andersartig“.
Das Buch gliedert sich im Anschluss an die Einleitung in sechs Kapitel, die in ihrer Anordnung einer Logik der zunehmenden Abstrahierung sowie einer akteurs- und elitenzentrierten Perspektive folgen. Sons beginnt mit grundsätzlichen Überlegungen zu Ordnungskategorien von Staat, Herrschaft und Legitimation der Ordnung (Kap. 1), um darüber den Zugang zu den aktuellen herrschaftspolitischen Stressfaktoren herzustellen.
Schwerpunkte sind hier die Themen Diversifizierung der Rentenökonomien mitsamt den einhergehenden migrationspolitischen Verwerfungen eines sich verändernden Arbeitsmarkts und Fragen der nationalen Identität (Kap. 2). Letzteres Thema ist das Sprungbrett, um auf die regionale und internationale Ebene (Kap. 3) sowie auf Fragen der internationalen Akteursqualität der Golfstaaten abzustellen (Kap. 4).
Plädoyer für mehr Ehrlichkeit
Hier spannt Sons einen spannenden Bogen von der Klima- und Energiepolitik über die Rolle der Golfstaaten als gestaltende Akteure in der Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu einer bestens recherchierten Aufarbeitung von Sportpolitik als Politikfeld der Golfaraber.
Dieses Herzstück des Buches erlaubt es dem Autor in zwei abschließenden Kapiteln, obige Befunde in den aktuellen politischen Diskurs in Europa und Deutschland einzuspeisen und am konkreten Beispiel der Beziehungen Deutschlands zu den Golfstaaten zu diskutieren. Sein Plädoyer für ein Mehr an Erwartungsmanagement, Ehrlichkeit und Empathie trifft den Zeitgeist einer sich in jüngeren Jahren selbst im Wege stehenden deutschen Außenpolitik gegenüber der Golfregion.
Zusammenfassend legt Sons mit "Die neuen Herrscher am Golf und ihr Streben nach globalem Einfluss“ ein Buch vor, das für eine breite Zielgruppe uneingeschränkt empfehlenswert ist, von Studierenden der Politik- und Nahoststudien über Akteure aus Politik, Medien, Wirtschaft und Kultur bis hin zu einer interessierten Öffentlichkeit, die die zunehmende Präsenz und den Gestaltungswillen der Golfstaaten einordnen und besser verstehen wollen. Kurzum: Prädikat unbedingte Leseempfehlung!
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