Der Vermittler

Seit Ende 2011 steht Houcine Abbassi an der Spitze des tunesischen Gewerkschaftsbundes UGTT. Neben Arbeiterrechten setzt er sich vor allem für den politischen Dialog in seinem Heimatland ein. Das von ihm initiierte Vermittlerquartett erhält dafür dieses Jahr den Friedensnobelpreis. Von Sarah Mersch

Von Sarah Mersch

Von seinem Büro in der Innenstadt von Tunis aus hat Houcine Abbassi den ganzen Mohamed-Ali-Platz im Blick. Die Porträts der Gründerväter und Vorgänger Abbassis wachen über das bescheidene Büro mit schwerem Holztisch und durchgesessenen Ledersesseln.

Dort, vor dem historischen Sitz des Gewerkschaftsbundes, fanden Ende Dezember 2010 die ersten Demonstrationen in der Hauptstadt statt, nachdem im Landesinneren schon seit Tagen gegen Machthaber Ben Ali demonstriert wurde. Abbassi war damals im Gewerkschaftsvorstand für Rechtsfragen und Studien zuständig und hielt sich im Hintergrund. 

Ein Jahr später entledigte sich die Gewerkschaft des regimetreuen Gewerkschaftsführers aus der Zeit von Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali und wählte den heute 68-jährigen Konsenskandidaten Abbassi an ihre Spitze.

Der Lehrer kann auf mehr als 40 Jahre Erfahrung in der Gewerkschaftsarbeit zurückblicken. Aufgewachsen in einer Bauernfamilie rund 100 Kilometer südlich von Tunis engagiert er sich seit den 1970er Jahren zunächst in der lokalen Lehrergewerkschaft. 2002 wird er Vorsitzender des Gewerkschaftsrates in Verwaltungsbezirk Kairouan, 2006 Mitglied des Exekutivbüros in Tunis. Doch seine Amtszeit als Generalsekretär wird eine der bewegtesten seit der Gründung des Gewerkschaftsbundes 1946.

Generalstreik als Druckmittel

Zwar gelingt Tunesien als einzigem Land des Arabischen Frühlings eine positive Entwicklung, doch immer wieder kommt es zu Gewalt, Rückschlägen und Krisen. Und immer wieder tritt die UGTT als Akteur und Vermittler auf. Mit ihren mehr als 700.000 Mitgliedern - bei einer Gesamtbevölkerung von rund elf Millionen - ist der Gewerkschaftsbund im ganzen Land hervorragend vernetzt und kann seine Mitglieder schnell mobilisieren, wie er schon in der Zeit der Revolution gezeigt hatte.

Als im Februar 2013 der Oppositionelle Chokri Belaid ermordet wird, ruft die Gewerkschaft für den Tag seines Begräbnisses zum Generalstreik auf – und ganz Tunesien steht an diesem Tag still.

Proteste nach der Ermordung Chokri Belaids in Tunis; Foto: dpa/picture-alliance
Machtvolles politisches Instrument: Als im Februar 2013 der Oppositionelle Chokri Belaid ermordet wird, ruft die Gewerkschaft für den Tag seines Begräbnisses zum Generalstreik auf – und ganz Tunesien steht an diesem Tag still.

Der Generalstreik ist für Houcine Abbassi das wichtigste Druckmittel, wenn gar nichts mehr geht. Als im Sommer 2013, mitten im Fastenmonat Ramadan, der Abgeordnete Mohamed Brahmi ermordet wird und das politische Leben in Tunesien in eine Krise stürzt, ergreift Abbassi die Initiative. Damals wird der kleine Mann mit den kurzen grauen Haaren zum Anführer des Vermittlerquartetts aus Gewerkschaft, Unternehmervereinigung, Menschenrechtsliga und Anwaltskammer, das hinter den Kulissen versucht, die verfahrene Situation zwischen den politischen Widersachern zu lösen.

Vom Widersacher zum Verhandlungspartner

Monatelang ziehen sich im Herbst 2013 die Verhandlungen hin, an deren Ende schließlich ein Kompromiss zwischen Regierungsparteien und Opposition steht. Dieser Kompromiss macht den Weg frei für eine Übergangsregierung, die Verabschiedung der Verfassung und Neuwahlen. "Einmal drohte der Dialog wirklich zu scheitern", erinnert sich Abbassi. Da habe er mit Generalstreik gedroht, um alle Beteiligten zum Einlenken zu bewegen, "denn die anderen Mitglieder des Quartetts haben ja kein Druckmittel."

Unter dem Vorsitz von Houcine Abbassi hat sich der tunesische Gewerkschaftsbund vom Widersacher zum Verhandlungspartner gewandelt. Abbassi scheut nicht davor zurück, sich einzumischen, wenn er der Meinung ist, dass sein Land vom demokratischen Weg abkommt.

"Uns wird immer wieder vorgeworfen, dass wir unsere Nase in Dinge stecken, die uns nichts angehen. Aber wir vermitteln nur, wir haben keine politischen Ambitionen", wird der Vater von vier Kindern nicht müde zu betonen. Aufgrund seines Engagements erhält der zurückhaltend, aber bestimmt agierende Abbassi immer wieder Morddrohungen.

Einen Ausweg aus der Sackgasse finden

Pressekonferenz des tunesischen Quartetts für den nationalen Dialog im Dezember 2013; Foto: dpa/picture-alliance
Bemühungen für Pluralismus und zivilgesellschaftlichen Aufbau: Das "Quartett für den nationalen Dialog" in Tunesien erhält in diesem Jahr den Friedensnobelpreis, der am 10. Dezember überreicht wird. Das Quartett besteht aus dem tunesischen Gewerkschaftsverband (UGTT), dem Arbeitgeberverband (UTICA), der Menschenrechtsliga (LTDH) und der Anwaltskammer des Landes.

Vermitteln konnte der parteilose Abbasi zwischen den verschiedenen politischen Akteuren im "Nationalen Dialog" nur, weil ihm alle Akteure vertraut haben. Stundenlang habe er sich damals die Positionen der verschiedenen Lager angehört. "Wir kamen immer wieder an den Punkt, dass mir jemand gesagt hat: bis hier und keinen Schritt weiter, denn wir haben Angst vor dem Gegner. Das kann ich natürlich den anderen nicht sagen. Ich musste Geheimnisse für mich behalten, damit der Dialog gelingen kann." Selbst seine Mitstreiter des Quartetts hätten nicht alles erfahren, was er damals hinter verschlossenen Türen mit den Parteien ausgehandelt hatte.

Was nicht geheim ist, will er aufschreiben, wenn sein Mandat als Generalsekretär im nächsten Jahr zu Ende geht. Er wolle die kommenden Generationen überzeugen, dass der Dialog das einzig sinnvolle Mittel sei, Konflikte zu lösen.

Dass dieses Engagement nun mit dem Friedensnobelpreis gekrönt wird, freut ihn zwar, doch Abbassi gibt sich bescheiden. "Als wir den Dialog initiierten, haben wir nicht daran gedacht, dass das eines Tages so belohnt wird. Wir haben uns am meisten gefreut, als wir unser Land aus der Krise geführt haben."

Als nächste Hürde stehen zunächst jedoch die Tarifverhandlungen im privatwirtschaftlichen Sektor an. Seit Wochen ringen Gewerkschaft und Unternehmerverband um einen Kompromiss – Nobelpreis hin oder her.

"Wir waren uns 2013 einig, dass Tunesien in Gefahr ist und wir das Land nur gemeinsam retten konnten. Das heißt aber nicht, dass wir in anderen Dingen einer Meinung sind", sagt Abbassi mit einem verschmitzten Lächeln. Er hoffe allerdings, dass auch in diesem Fall der Dialog eine Lösung hervorbringen werde.

Sarah Mersch

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