Angriff auf die türkische Verfassung
Anfang Juni hat das türkische Verfassungsgericht in einer aufsehen erregenden Entscheidung das Kopftuchverbot an Universitäten bestätigt. Die Richter erklärten damit eine im Februar verabschiedete Gesetzesänderung, die das Kopftuch für Universitäten freigab, für verfassungswidrig.
Das Hohe Gericht hat festgestellt, dass die von der Regierungspartei eingebrachte und im Parlament verabschiedete Verfassungsänderung Artikel 2 der türkischen Verfassung – bekannt als Laizismusartikel im Grundgesetz – verletzt und somit keine Gültigkeit haben kann. Die Richter entschieden aufgrund einer Klage der von Atatürk gegründeten Republikanischen Volkspartei, CHP.
Das Laizismus-Prinzip
Im Artikel 10 der türkischen Verfassung wird das Gleichheitsprinzip geregelt. Die islamische AKP-Regierung wollte mit ihrem Änderungsgesetz diesen Artikel ergänzen, und zwar mit dem Zusatz, dass alle Bürger uneingeschränkten Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Institutionen gewährt werden muss. Diese Ergänzung beinhaltet mit der Änderung des Artikels 42 den Gedanken, dass jeder jede Art von öffentlichen Dienstleistungen – und somit natürlich auch Bildungseinrichtungen – gleichberechtigt nutzen darf. Betroffen sind in erster Linie die Hochschulen; nach der Novelle der AKP wären sie somit für Kopftuch tragende Studentinnen frei zugänglich.
Die Kritik an dem Gerichtsurteil einiger Regierungsmitglieder, aber auch demagogische Meldungen regierungsnaher Medien sind – aus juristischer Perspektive – verfehlt. Bei diesem Gerichtsurteil handelt es sich nämlich nicht um das erste Kopftuchurteil dieser Art: Bereits 1989 hatte das oberste Gericht in einem Verfahren gegen das Hochschulgesetz festgestellt, dass jegliche Änderungen dieser Art gegen das in der Verfassung verankerte Laizismusprinzip verstießen. In der Begründung von damals hieß es:
"Die Basis der demokratischen Struktur ist die nationale Souveränität. Die demokratische Ordnung zudem wendet sich gegen die Vorherrschaft religiöser Werte, die Scharia. Eine Regelung, die religiöse Werte besonders hervorhebt, kann nicht demokratisch sein. Ein demokratischer Staat kann nur säkular sein. Religiös bedingte Regelungen bringen religiöse Bemühungen und Zwänge mit, welche religiöse Auseinandersetzungen verursachen. Dies führt dazu, dass letztendlich die Demokratie ihre freiheitliche, mehrheitliche und tolerante Qualität einbüßt."
1991, also zwei Jahre später, bestätigte das Verfassungsgericht diese Entscheidung erneut.
Kopftuchverbot ist nicht undemokratisch
Das jetzige Urteil über die Verfassungsänderungen, das sich auf Artikel 4 und 148 der Verfassung bezieht, stimmt sowohl mit den vorherigen Entscheidungen des Verfassungsgerichts überein, aber darüber hinaus auch mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bezüglich Leyla Şahin und der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi). In dem Urteil von 2005 wurde entschieden, dass ein Kopftuchverbot für Universitäten nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. "Besonders in der Türkei benötigt man dieses Verbot, um die Rechte derjenigen zu schützen, die kein Kopftuch tragen", so die Begründung des Gerichtshofs in Straßburg.
Während sich die Europäische Union oft in innenpolitische Angelegenheiten der Türkei einmischt, wurde das Urteil des Verfassungsgerichts von Brüssel nicht weiter kommentiert. Allein Erweiterungskommissar Olli Rehn forderte, dass die Türkei diese Probleme durch eine neue Verfassung lösen sollte.
Der AKP-Angriff auf die Verfassung
Der türkische Generalstaatsanwalt Yalcinkaya hat in seiner Klageschrift auf die Beharrlichkeit der Regierungspartei hingewiesen, das Kopftuchtragen an den Universitäten zu erlauben. Darüber hinaus kritisiert Yalcinkaya auch, dass die AK-Partei keinen Widerspruch zwischen der Aufhebung des Kopftuchverbots und dem Laizismus erkennen will. Aus seiner Sicht erfüllen Erklärungen zahlreicher Regierungsmitglieder bezüglich des fest in die Verfassung eingeschriebenen Laizismus-Artikels die Voraussetzungen für ein Parteiverbot gemäß Artikel 69 der Verfassung. Die Klageschrift wirft der Partei von Ministerpräsidenten Erdoğan deshalb vor, sie wolle den Laizismus abschaffen. Dabei gehört dieser Grundsatz zu dem Fundament, auf dem das Gebäude der türkischen Republik errichtet wurde.
Wenn man all diese Gesichtspunkte also berücksichtigt, wird deutlich, dass das Kopftuchurteil des Verfassungsgerichts vom 5. Juni 2008 das Verbotsverfahren gegen die regierende AK-Partei in erheblichem Maße beeinflussen wird. Ein Verbot ist jetzt wahrscheinlicher als jemals zuvor.
Ülkü Azrak
© Qantara.de 2008
Aus dem Türkischen von Jens Grimmelijkhuizen
Prof. A. Ülkü Azrak, ist Verfassungsrechtler an der Maltepe Universität in Istanbul und Vorsitzender des deutsch-türkischen Kulturbeirats sowie Träger des Bundesverdienstkreuzes.
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