Stimmungsmache gegen die queere Community

Im zurückliegenden Wahlkampf hat der türkische Präsident  Erdoğan die LGBTQ+-Community gezielt verunglimpft, um sich die Unterstützung konservativer Wähler zu sichern und das Oppositionsbündnis zu spalten. Nun plant die Regierung eine Verfassungsänderung, die queere Menschen noch stärker ausgrenzen würde.
Im zurückliegenden Wahlkampf hat der türkische Präsident  Erdoğan die LGBTQ+-Community gezielt verunglimpft, um sich die Unterstützung konservativer Wähler zu sichern und das Oppositionsbündnis zu spalten. Nun plant die Regierung eine Verfassungsänderung, die queere Menschen noch stärker ausgrenzen würde.

Im zurückliegenden Wahlkampf hat der türkische Präsident  Erdoğan die LGBTQ+-Community gezielt verunglimpft, um sich die Unterstützung konservativer Wähler zu sichern und das Oppositionsbündnis zu spalten. Nun plant die Regierung eine Verfassungsänderung, die queere Menschen noch stärker ausgrenzen würde. Von Ayşe Karabat  

Von Ayşe Karabat

Die Rechte und Freiheiten der LGBTQ+-Community sind in der Türkei seit einiger Zeit Gegenstand politischer Debatten. Im Wahlkampf von Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai dieses Jahres spielten sie eine zentrale Rolle.  

Ausgangspunkt war der Streit über das Kopftuch in öffentlichen Institutionen. Im Oktober 2022 forderte der Präsidentschaftskandidat und Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP), der größten Oppositionspartei, Kemal Kılıçdaroğlu, ein neues Gesetz, das Frauen im öffentlichen Dienst das Recht einräumen sollte, frei zu entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen oder nicht.  

Der von der CHP vorbereitete Gesetzesentwurf wurde weithin als Versuch verstanden, Erdoğan die "Kopftuchkarte“ aus der Hand zu schlagen. Dieser wirft der CHP immer wieder vor, in den 1990er Jahren das Kopftuch im öffentlichen Dienst und an den Universitäten verboten zu haben – ein Thema, das für konservative Wähler wichtig ist. 

Erdoğan wies den Vorschlag der CHP zunächst mit der Begründung ab, das Thema Kopftuch stehe derzeit in der Türkei nicht auf der politischen Agenda. Später schlug er jedoch vor, die Verfassung zu ändern, um das Recht von Frauen, in öffentlichen Einrichtungen, Schulen und Universitäten ein Kopftuch zu tragen, gesetzlich zu verankern.



Außerdem erklärte er damals, dass die Verfassungsänderung, die seine Partei dem Parlament vorschlagen werde, auch die Familie stärken würde, indem sie klarstellt, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden kann.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan spricht bei einer Wahlkampfveranstaltung zu seinen Unterstützern, Sultangazi, Istanbul, 12. Mai 2023; Foto: Ozan Kose/AFP
Speaking publicly on 22 October President Erdogan asked: "Can there be LGBT in a strong family? No!" From that point on, accusing the opposition of supporting the LGBTQ+ community was a feature of his campaign speeches

Vom Kopftuch zum Angriff auf die LGBTQ+-Community 

In einer öffentlichen Rede am 22. Oktober ging er noch einen Schritt weiter und sagte: "Kann es LGBT in einer starken Familie geben? Nein!". Dann fügte er hinzu: "Sie wissen, welche politischen Parteien mit diesen Kreisen zusammenarbeiten". Von da an gehörte es bei seinen Wahlkampfreden dazu, der Opposition vorzuwerfen, sie unterstütze die LGBTQ+-Community.  

Obwohl die Verfassungsänderung mit dem Recht auf ein Kopftuch und zum Schutz der Familie seinerzeit nicht von der Opposition unterstützt wurde, wurde sie im Januar 2023 vom zuständigen Parlamentsausschuss verabschiedet.



In der geänderten Präambel heißt es jetzt: "Es ist die vorrangige Pflicht des Staates, die Ordnung der Familie, die das Fundament der türkischen Gesellschaft bildet, zu schützen und die Familie vor allen Arten von Gefahren, Bedrohungen, Angriffen und Abweichungen zu bewahren.“ 

Menschenrechtsgruppen wiesen damals darauf hin, dass mit dem Begriff "Abweichungen“ die LGBTQ+-Community gemeint sei. Sie warnten davor, dass die Verfassungsänderung, sollte sie in Kraft treten, genutzt werden würde, um LGBTQ+-Organisationen und queere Vereinigungen zu verbieten.  

Bevor die Änderung ratifiziert werden konnte, wurde der Süden der Türkei am 6. Februar von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht. Mehr als 50.000 Menschen kamen uns Leben. Die Aufmerksamkeit der Regierung verlagerte sich daher auf die Bewältigung dieser Katastrophe.

Ein türkischer Polizist verhaftet einen Demonstranten bei der Pride Parade in Istanbul am 26. Juni 2022 (Foto: Kurtulus Ari/AFP)
Turkish police forcibly intervened in a Pride march in Istanbul, on 26 June 2022, detaining dozens of demonstrators and an AFP photographer. The governor's office had banned the march around Taksim Square in the heart of Istanbul but protesters gathered nearby under heavy police presence earlier than scheduled

Kein Thema für die türkische Öffentlichkeit  

Laut Mustafa Aydın von der Kadir Has Universität gehört das Thema LGBTQ+ für die türkische Öffentlichkeit nicht zu den besonders brennenden Fragen. Aydın und sein Team befragen die Menschen in der Türkei seit 2010 jährlich nach ihren größten Problemen und leiten daraus Trends ab.  

"In den bisherigen Antworten tauchte das Thema LGBTQ+ nicht auf. Allerdings haben wir LGBTQ+ auch nicht ausdrücklich als Antwortmöglichkeit angeboten. Es gibt aber auch eine offene Frage nach den größten Problemen. Auch dort wurde LGBTQ+ aber bisher nicht genannt“, erklärte er gegenüber Qantara.de.  

Aydın fragt die Teilnehmer auch danach, wen sie sich als Nachbarn wünschen. "Damit jeder die Frage versteht, verwenden wir in diesem Zusammenhang den Begriff 'Homosexuelle'. Im Jahr 2022 antworteten 10,3 Prozent der Befragten mit 'Ich habe überhaupt nichts gegen Homosexuelle in meiner Nachbarschaft'. 41,7 Prozent antworteten, es würde sie nicht stören, homosexuelle Nachbarn zu haben. 48 Prozent antworteten, sie seien strikt dagegen oder wollten keine Homosexuellen in ihrer Nachbarschaft.“  

Aydın wies darauf hin, dass zwar 52 Prozent der Befragten kein Problem mit Angehörigen der LGBTQ+ Community in ihrer Nachbarschaft hätten, diese aber dennoch die Liste der am wenigsten erwünschten Nachbarn anführten, gefolgt von Atheisten und Alkoholikern. Dies deute darauf hin, dass LGBTQ+-Themen für einen bestimmten Teil der Gesellschaft durchaus politisch relevant sein könnten. 

Brisantes Thema im Wahlkampf 

In seinem Wahlkampf griff Erdoğan in jeder Rede die Oppositionsparteien an und behauptete, sie seien für die Rechte von LGBTQ+. Diese Diskriminierung von queeren Menschen gab es in dieser Form bei der AKP nicht immer. Vor weniger als zehn Jahren war es noch möglich, auf einer AKP-Veranstaltung in der ersten Reihe eine Regenbogenfahne zu schwenken. Noch 2015 erklärte die AKP in ihren Wahlkampfbroschüren, dass sie sich nicht in die Lebensweise der Bürger einmischen werde und dass es in der Türkei sogar möglich sei, im heiligen islamischen Monat Ramadan Pride-Paraden zu veranstalten.

People take part in an anti-LGBT rally organised by pro-Islamic NGOs in Istanbul, 18 September 2022 (photo: Yasin Akgul/AFP)
Although the anti-LGBTQ+ rhetoric intensified during Turkey's recent election campaigns, anti LGBTQ+ sentiment was already strong in some sections of society. The demonstrators who attended an anti-LGBT rally organised by pro-Islamic NGOs in Istanbul on 18 September 2022 (pictured here), for example, demanded the banning of associations for the defence of the rights of homosexuals and transgender people



In diesem Jahr sah das ganz anders aus. Der ehemalige Innenminister Süleyman Soylu sprang auf den Zug auf und behauptete sogar, Mitglieder der LGBTQ+-Community wollten die Ehe zwischen Menschen und Tieren legalisieren. Ferner behauptete er, alle Gruppen, die LGBTQ+ unterstützen, stünden unter dem Einfluss der USA und Europas.  

Versuchte Spaltung der Opposition 

Das Oppositionsbündnis hat seine Haltung zur LGBTQ+-Community eher zurückhaltend kommuniziert und in ihrer gemeinsamen Erklärung zur Wahl 2023 nicht erwähnt. Auch versprach das Bündnis nicht, der Istanbul-Konvention wieder beizutreten, einem internationalen Übereinkommen zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.



Die Zurückhaltung der Opposition in diesem Punkt lässt sich damit erklären, dass sie keine konservativen Wähler verlieren wollte. Viele dieser Wähler lehnen die Konvention ab, weil sie sie für LGBTQ+-freundlich und familienfeindlich halten.  

Pınar Uyan Semerci von der Istanbuler Bilgi-Universität, die zum Thema politische Polarisierung forscht, sagt, dass Erdoğan seine Wählerbasis festigen konnte, indem er sich im Wahlkampf immer wieder auf die LGBTQ+ Community bezog und die Opposition als deren Unterstützer abstempelte.  

"Rückblickend hat die Regierung das Narrativ vom 'Schutz und der Verherrlichung der Familie', das zu den wichtigsten Werten der Konservativen gehört, benutzt, um die Opposition mit der Behauptung, sie befürworte LGBTQ+, zu einem "Anderen“ abzustempeln, meint Uyan Semerci gegenüber Qantara.de. 

Nun signalisieren Erdoğan und seine Partei, sie wollten auf die geplante Verfassungsänderung zum Kopftuch und zum Stellenwert der Familie zurückkommen, in der Hoffnung, für ihr Vorhaben die Unterstützung konservativer Abgeordneter aus den Oppositionsparteien zu gewinnen. Sollte dies gelingen, wäre es um die Einheit des Oppositionsbündnisses geschehen. 

In der Zwischenzeit hat sich die Rhetorik gegen die LGBTQ+-Community verschärft. Die Atmosphäre hat sich für die queere Community seit den Wahlen im Mai weiter verschlechtert. Bei der 21. Istanbuler Pride Parade am 25. Juni, die zuvor verboten worden war, verhaftete die Polizei 113 LGBTQ+-Demonstranten, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten. In der Türkei bleibt das Leben der LGBTQ+-Community offensichtlich nach wie vor schwierig. 

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2023



Übersetzt aus dem Englischen von Gaby Lammers