Kampf mit den Mythen zweier Völker
Ein Leben im Frieden, sagt Uri Avnery, das hat er noch nicht kennen gelernt. Denn zu seinem Leben habe immer der Unfriede gehört:
Damals, als er noch ein Kind war und im Deutschland der erstarkenden Nazi-Bewegung lebte und während der ersten Monate des Dritten Reichs. Dann seit der Emigration seiner Familie, in Israel beziehungsweise Palästina.
Frieden als "Science Fiction"
"In den 72 Jahren, die ich in Palästina lebe, habe ich und kein anderer Israeli oder Palästinenser jemals einen Tag Frieden erlebt", so Avnery. "Jeden Tag werden unsere täglichen Nachrichten vom Kriegsgeschehen beherrscht. Darum ist Frieden für uns, in unserem Land, beinahe so etwas wie Science Fiction."
Gelegenheiten, Frieden zu schaffen habe es in der Vergangenheit immer wieder gegeben, sagt Avnery. Aber weder Palästinenser noch Israelis hätten diese Chance wahrgenommen.
Avnery fragt sich, welchen Beitrag Schriftsteller leisten können, um den Konflikt zu überwinden. Sollen sie das überhaupt? Für den langjährigen Friedensaktivisten Avnery steht die Antwort jedenfalls fest: "Ein Schriftsteller kann, er muss sogar die Situation verändern!"
Mythen überwinden
In jedem Krieg, sagt Avnery, entstehen Mythen. Mythen, die begründen, warum das Opfer ein Opfer und der Feind ein Feind ist. Eben deshalb behinderten sie jede Form von Veränderung und Verständigung. Aufgabe des Schriftstellers sei es deshalb, die Mythen des eigenen Volkes zu überwinden und die der anderen Seite, des so genannten Feindes, zu verstehen und zu erklären.
"Dieselben Geschehnisse, von denen jeder Israeli überzeugt ist, dass sie so waren, wie erinnert - auf der anderen Seite sehen sie vollkommen anders aus", meint Avnery, "so vollkommen anders, als sprächen wir nicht über zwei Völker, die im selben kleinen Lande zusammenleben, gegeneinander zusammenleben, sondern von zwei Völkern, die in zwei verschiedenen Erdteilen leben - oder auf zwei verschiedenen Planeten."
Kampf um Unabhängigkeit wider nationale Katastrophe
So betrachteten die Israelis den Krieg von 1948 als Kampf um die eigene Selbständigkeit und Unabhängigkeit - für die Palästinenser hingegen sei dieser Krieg ein nationales Unglück, eine nationale Katastrophe gewesen, bei dem die Israelis die Hälfte des palästinensischen Volkes aus seinem Land vertrieben haben.
99 Prozent glaubten an diese Mythen, so Avnery. Sie seien daher bereit, ihr Leben für diese Mythen zu opfern, von ihrem eigenen Recht seien sie vollkommen überzeugt. "Erst wenn man erkennt, dass wir hundertprozentig Recht haben, die andere Seite aber auch hundertprozentig Recht hat - erst dann kann man sich überhaupt dem Frieden nähern."
Doch dazu brauche es Ausdauer und Zeit – viel Zeit, wie Avnery einräumt. Aber er, als "skeptischer Optimist" bekannt, ist davon überzeugt, dass sich mit Hilfe der Schriftsteller und Intellektuellen tradierte Sichtweisen tatsächlich aufbrechen lassen – trotz aller wiederkehrender Gewaltausbrüche der vergangenen Jahre.
Silke Bartlick
© DEUTSCHE WELLE 2006
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