Sheikh Jarrah am Scheideweg
Der kleine Stadtteil Sheikh Jarrah in Ost-Jerusalem hat sich in den letzten Jahren zu einem Brennpunkt entwickelt, der weltweit immer wieder für Schlagzeilen sorgt. Der Kampf palästinensischer Familien gegen die drohende Vertreibung aus ihren Häusern im vergangenen Jahr fand große Resonanz auch in den sozialen Medien. Hinter der Kampagne unter dem Hashtag #SaveSheikhJarrah versammelten sich nicht zuletzt viele Prominente. Aber worum genau geht es hier?
Seit mittlerweile mehreren Jahrzehnte versuchen rechtsgerichtete israelische Organisationen, die Eigentumsrechte auf Grundstücke in mehreren von palästinensischen Familien bewohnten Stadtteilen Ostjerusalems zu erlangen. Auf radikale, religiös-nationalistisch geprägte Kräfte üben nicht nur die vielen alten jüdischen Stätten jenseits der Grünen Linie in Ost-Jerusalem eine besondere Anziehungskraft aus. Sie wollen auch die "Souveränität“ über diese Stätten erlangen, indem sie versuchen, die palästinensische Bevölkerung aus diesen Gebieten zu verdrängen.
Eine solche Stätte liegt im palästinensischen Stadtteil Silwan, wo es Überreste der alten Hauptstadt Judäas aus der Eisenzeit gibt. In Sheikh Jarrah gibt es eine Grabkammer, die von dort ansässigen Juden seit dem Mittelalter als Ruhestätte von Simon dem Gerechten verehrt wird, einem Hohen Priester aus der Zeit des zweiten Tempels um 300 v. Chr. In den 1870er Jahren erwarben jüdische Gemeinden angrenzende Grundstücke und bebauten später einige davon.
Undurchsichtige Finanzkanäle und Strohmänner
Die Siedlerorganisationen operieren über undurchsichtige Finanzkanäle und kaufen Vermögenswerte über Strohleute. Doch sie nutzen auch andere Mittel. So fordern sie in Silwan und Sheikh Jarrah beispielsweise Grundstücke aus jüdischem Besitz zurück, die im Palästinakrieg von 1948 verloren gingen und auf denen heute Palästinenser leben. Sie machen die jüdischen Erben dieser Grundstücke ausfindig, erwerben von ihnen die Rechte und ziehen dann vor Gericht, um dieses Eigentum einzuklagen. Das heißt in der Praxis: Palästinenser werden vertrieben und ultranationalistische Siedler ziehen ein. In den vergangenen zwanzig Jahren ist das bereits fünf Familien in Sheich Jarrah widerfahren. Weitere könnten in Zukunft betroffen sein.
Ungefähr vor einem Jahr wurde der Stadtteil von Gewalttätigkeiten heimgesucht, als der rechtsextreme israelische Knessetabgeordnete und notorische Provokateur Itamar Ben-Gvir dort auf offener Straße ein provisorisches "Büro“ errichtete. Die von ihm provozierten Zusammenstöße gipfelten schließlich in den gewaltsamen Ausschreitungen von Mai 2021. Diesen Monat baute Ben-Gvir sein "Büro“ erneut auf. Auch Abgeordnete der oppositionellen Likud-Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Netanjahu statteten ihm einen Besuch ab, was man als rücksichtslosen Versuch deuten kann, die Koalitionsregierung von Naftali Bennett und Jair Lapid zu destabilisieren.
Angesichts der explosiven Situation darf man davon ausgehen, dass selbst ein rechter Politiker wie Ministerpräsident Naftali Bennett es begrüßen würde, wenn es in Sheikh Jarrah einfach ruhig bliebe – selbst wenn man damit auf weiter wachsende jüdische Siedlungen in diesem Gebiet verzichten würde. Letztlich geht es hier nicht um die Klagemauer oder um den alten jüdischen Friedhof auf dem Ölberg, beides Stätten, die sich in Ost-Jerusalem befinden. Im Unterschied zu diesen symbolisch aufgeladenen Orten ist Sheikh Jarrah den meisten Israelis schlichtweg egal.
Eine unerwartetes, wegweisendes Urteil
Im August 2021 unterbreitete das Oberste Gericht Israels den Konfliktparteien einen Vorschlag für einen Kompromiss, der den betroffenen palästinensischen Familien weitere Zwangsräumungen ersparen würde. Danach sollten sie als "geschützte Mieter“ gelten, sodass eine Zwangsräumung auf Jahrzehnte ausgeschlossen wäre. Im Gegenzug müssten die Betroffenen eine geringe symbolische Miete an den rechtmäßig eingetragenen Eigentümer zahlen, also an die klagende Siedlerorganisation. Beide Seiten lehnten den Vorschlag jedoch ab.
Die palästinensischen Familien riefen erneut das Oberste Gericht an und legten neue Dokumente vor, aus denen hervorgeht, dass Jordanien ihnen zum Zeitpunkt des Sechs-Tage-Krieges 1967 die Rechte an den Grundstücken übertragen wollte. Anfang des Monats urteilte das Gericht, die Dokumente seien ein zureichender Grund, um sämtliche Räumungsbescheide auszusetzen. Aktivisten und Abgeordnete begrüßten das unerwartete, wegweisende Urteil. Der Rechtsvertreter der Familien, Sami Arshed, bezeichnete den Gerichtsentscheid gegenüber der israelischen Tageszeitung Haaretz als "unglaublichen juristischen Triumph“. "Die Richter sind unserem Kernargument gefolgt, nämlich dass die Eigentumsfrage noch nicht abschließend geklärt ist“, so Arshed.
Mit dieser spektakulären Wende liegt der Ball jetzt beim Justizministerium, wo die Anwälte beider Parteien nun die gegenseitigen Ansprüche abwägen müssen. Dies wird voraussichtlich Monate, wenn nicht Jahre dauern. Das Oberste Gericht hat die Familien in der Zwischenzeit angewiesen, eine symbolische monatliche Zahlung in Höhe von 56 Euro in einen neutralen Fonds zu leisten, ohne dass dies mit einer rechtlichen Anerkennung des jüdischen Eigentums verbunden ist. Das Geld werde nur dann an die klagenden Organisationen ausgezahlt, wenn das Justizministerium in seinen Untersuchungen zu dem Schluss kommt, dass die Kläger mit ihren Bemühen um Eigentumsrechte Aussicht auf Erfolg haben.
"Das Urteil entschärft die Konflikte im Stadtteil und gibt den betroffenen Familien endlich Sicherheit“, sagt Gaby Lasky, eine bekannte israelische Menschenrechtsanwältin, Aktivistin und – seit letztem Jahr – Abgeordnete in der Knesset. "Das ist wichtig“. Aber, so fügt sie hinzu, "zwei Fragen sind weiterhin ungeklärt: Dürfen die Familien bleiben und wer ist der rechtmäßige Eigentümer?“ Und weiter sagt sie: "Ich war in der Vergangenheit selbst Zeugin einer Zwangsräumung. Das jetzige Urteil verhindert vorerst solche hässlichen Szenen. Insofern ist es sehr wichtig. Ob es Präzedenzcharakter für ähnlich gelagerte Fälle in anderen mehrheitlich von Palästinensern bewohnten Stadtteilen haben wird, bleibt abzuwarten. Dass die Eigentumsfrage offen ist, geht letztendlich auf diskriminierende und rassistische Gesetze zurück, die mit diesem Urteil nicht korrigiert werden. Die so wichtige Eigentumsfrage bleibt weiter offen. Ich denke, wir sind hier noch nicht am Ziel.“
Mit zweierlei Maß gemessen
Die Situation wird von israelischer Seite gegenüber ausländischen Medien gerne als "Streit um Eigentumsrechte auf Grundbesitz“ bezeichnet. Tatsächlich aber handelt es sich um eine Schieflage, die sich aus ungleichen Ausgangsbedingungen ergibt, wie Lasky betont.
Während des Krieges von 1948 haben jüdische Bewohner tatsächlich Grund und Boden verloren, das nach Kriegsende im jordanisch kontrollierten Westjordanland lag, vor allem in der Gegend um Jerusalem. Palästinenser verloren allerdings wesentlich mehr Land und Besitz in den Gebieten, die nach dem Krieg zum Staat Israel wurden. Ihr Vermögen wurde nach dem Krieg verstaatlicht und kann nicht eingeklagt werden, selbst wenn die früheren Besitzer Dokumente präsentieren, die ihre Besitzrechte belegen. Viele Familien in Sheikh Jarrah besaßen früher Eigentum im heutigen Israel.
Nachdem Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 das Westjordanland (einschließlich Ost-Jerusalem) unter seine Kontrolle gebracht hatte, wurde ein Gesetz verabschiedet, das es der jüdischen Bevölkerung erlaubt, Eigentum aus der Zeit vor 1948 einzuklagen. Dieses Recht wird Palästinensern jedoch verweigert, auch wenn sie in Israel leben.
Es bleibt abzuwarten, ob das jüngste Urteil des Obersten Gerichts Auswirkungen auf das Schicksal der Familien von Sheikh Dscharrah haben wird. Auf lange Sicht bleiben nur zwei Wege, um das Unrecht zu beenden, das das Vorgehen der Siedlerorganisationen nach israelischem Recht deckt: Das Gesetz, wonach der jüdischen Bevölkerung ermöglicht wird, Grundstücke aus der Zeit vor 1948 einzuklagen, muss aufgehoben und sie dadurch rechtlich der palästinensischen Bevölkerung gleichgestellt werden. Eine solche Entscheidung würde allerdings eine linke Mehrheit in der Knesset voraussetzen, was kaum zu erwarten ist.
Ein anderer Weg wäre eine Enteignung, wie sie der unabhängige Think Tank Jerusalem Institute for Policy Research (JIPR) vorgeschlagen hat. Sie sollte verhindern, dass das Eigentum in die Hände der Siedlerorganisationen fällt. Denn wie alle Staaten, so kann auch Israel Grundstücke enteignen, wenn dies im nationalen Interesse liegt. Liegt beispielsweise ein Kiosk auf der geplanten Trasse für eine neue Straßenbahn, kann er ohne Zustimmung des Eigentümers verlegt werden, sofern dieser finanziell entschädigt wird. Analog dazu könnte die Regierung das Oberste Gericht davon überzeugen, dass ein Eingriff in die Eigentumsrechte im besonderen öffentlichen Interesse liegt, auch wenn ein solcher Vorstoß großen politischen Mut erfordern würde. Ferner könnte die Regierung argumentieren, dass nationale Sicherheitsinteressen dem Ausbau von jüdischen Siedlungen in mehrheitlich von palästinensischen Familien bewohnten Stadtteilen entgegenstehen. Wie sich die Dinge letztlich entwickeln werden, bleibt abzuwarten.
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Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers