Die bleiche Farbe der Hoffnung
Aida arbeitet im Archiv der arabischen Abteilung in der Stadtbibliothek Basel. Da sie gerne arabische Bücher liest und selbst auch auf Arabisch schreibt, hat sie gewissermaßen ihren Traumjob gefunden. Auch privat, scheint sie Glück zu haben und lebt seit neun Jahren in einer festen Beziehung.
Doch der Schein trügt, die zurückliegenden Ereignisse ihrer Flucht belasten die junge Frau sehr. Ausgerechnet ihr Freund treibt sie durch seine bohrenden Fragen immer mehr in die Defensive. Er begreift nicht, dass sie nicht darüber sprechen kann; manchmal trifft sie seine fragende Stimme "dünn und spitzig (…) wie ein Pfeil." Erst eine vorübergehende, beruflich bedingte Trennung des Paares bahnt ihr schließlich einen Ausweg aus der Krise.
Zu Beginn des Romans lebt Aida noch mit ihren Eltern und ihrer Schwester in der Schweiz. Die Familie ist aus dem Irak geflohen, wo sie sich nie heimisch fühlte. Inzwischen sind sie alle als Flüchtlinge in der Schweiz anerkannt, doch den Eltern behagt das Leben nach westlichen Vorstellungen nicht. Vor allem der Vater, ein konservativer Theologe, lässt keinen Tag verstreichen, an dem er nicht die "Heimat" beschwört und ihren Verlust als das übermächtige Lebensthema hochhält.
Er leidet darunter, die deutsche Sprache nicht zu können, doch anders als seine Töchter hat er auch keinen Ehrgeiz, sie zu erlernen. So kann er sich nur rudimentär verständigen, was ihn täglich wütender macht. Eine Perspektive bietet ihm und seiner Frau dieses Leben nicht und so kehrt die Familie nach etwa zehn Jahren in den Irak zurück, in "ein Dorf" in der Nähe von Abu Rajat.
Ruhig wie der Takt einer Schweizer Uhr
Shahmani erzählt diese turbulente, komplexe Fluchtgeschichte in einem ruhigen Ton, der mitunter den Takt einer Schweizer Uhr besitzt. Doch immer, wenn die Flüchtenden in Gefahr kommen und ihr Leben in unruhige Gewässer gerät, nimmt die Erzählung an Fahrt auf.
Aida, deren Aufzeichnungen wir lesen, blendet häufig zurück und erzählt parallel von beiden Zeitebenen. Dadurch scheint das Geschehen gewissermaßen zwischen den Zeiten zu schweben, was das Nicht-Ankommen-Können der Hauptfigur unterstreicht.
Aida, die im Iran geboren ist, kann den Irak nicht als ihre Heimat empfinden. Ihre beste Zeit verbrachte sie als Schülerin in der Schweiz, und so ist es nicht verwunderlich, dass sie zusammen mit ihrer Schwester eine Rückkehr auf eigene Faust plant – ein Vorhaben, das die Mädchen vor ihren Eltern geheim halten.
Einzig ein alter Bekannter des Vaters, ein Freund der Familie, der in der Schweiz lebt, wird eingeweiht. Er ermöglicht den Geschwistern einen Flug via Istanbul und Wien nach Zürich. Dort jedoch, im Flüchtlingsheim, sind die jungen Frauen auf sich gestellt. Und in dieser Phase der Flucht kommt es zu einem tragischen Verkehrsunfall, dem Aidas Schwester zum Opfer fällt.
Es sind vor allem die kleinen täglichen Belastungsproben, die es den Beteiligten schwermachen, sowohl in der Fremde als auch im ebenso fremd gewordenen Heimatland anzukommen. Für die Eltern ist die deutsche Sprache die entscheidende Barriere, die fremden Wörter stellen sich ihnen wie "eine Reihe von stehenden Panzern" in den Weg, so dass sie sie nicht für sich gewinnen können.
Demgegenüber hat Aida das Gefühl, dass ihre Chefin "wie ein Roboter" spricht und über eine "neutrale Sprache" verfügt (gemeint ist das Schweizerdeutsch), die sie benutzt, "ohne ein einziges Gefühl zu zeigen." In der Wiedergewinnung und Verbesserung des Arabischen besteht für Aida die Chance sich einen eigenen Sprachraum zu eröffnen und über die Poesie aus ihrem Schweigen herauszufinden.
Die Poesie ist das eigentliche Exil, in dem Aida eine neue Heimat findet; ausgehend von den Sprachfiguren des Vaters, doch befreit von dessen ideologischen Zwängen und seiner politischen Blauäugigkeit (er glaubt, mit der Verhaftung Saddam Husseins seien die wichtigsten Weichen für die Zukunft des Landes gestellt), nimmt sie den Klang der vertrauten Sprache auf und überträgt ihn in ein poetisches Deutsch, das dem Roman seine eigene Färbung verleiht.
Stiller Fluss der Erzählung – und dramatische Ereignisse
So entsteht eine doppelte Rückkehrbewegung, geografisch und sprachlich. Während vor allem Aida darauf drängt, in die Schweiz "zurückzukehren" (wodurch sie eine gewisse Schuld am Tod ihrer Schwester auf sich lädt), dem Land, das zu ihrer (zweiten) Heimat geworden ist, nimmt sie zugleich mehr und mehr Kontakt zur Sprache ihrer Eltern auf, die sie (beinahe) wie eine Fremdsprache erlernen muss.
Vieles im Roman bleibt Andeutung und Verweis; die Romanfiguren sind auf ihre jeweilige Rolle festgelegt und liefern in ihrer Entfaltung kaum erzählerischen "Mehrwert". Eines der Hauptmotive, Aidas Schuldgefühle gegenüber dem Tod der Schwester, wird beinahe diskret übergangen; einzig das psychische Leiden wird anschaulich, wenn wir erfahren, dass sie zu wöchentlichen Sitzungen eine psychiatrische Praxis in Basel aufsucht.
Die dramatischen Geschehnisse um Krieg und Verfolgung stehen im Kontrast zum stillen Fluss der Erzählung, in der es bereits ein Höhepunkt ist, wenn Aida sich mit ihrem Freund über das Leben ihrer Eltern streitet oder ihre Mutter ihr davon erzählt, wie sie eine selbstgenähte Puppe zu ihrer Vertrauten machte, so wie es viele Frauen "in den alten irakischen Kulturen" taten, "wenn sie sich in der Ehe betrübt oder unterdrückt fühlten."
Usama Al Shahmani hat einen fesselnden Roman über das Schweigen und die Kraft der Erinnerung geschrieben, die manchmal selbst Heimatverlust und Entwurzelung zu überwinden vermag.
© Qantara.de 2021
Usama Al Shahmani, Im Fallen lernt die Feder fliegen, Limmat Verlag, Zürich 2020
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. 2002 musste er wegen eines kritischen Theaterstücks aus dem Irak in die Schweiz fliehen. Er arbeitet heute als Autor, Übersetzer und Kulturvermittler.