Der letzte Widerstand
Der junge Mann in dem Youtube-Video hält eine Plastikflasche hoch, die mit Benzin gefüllt ist. "In zwanzig Minuten werde ich mich anzünden", verkündet der Tunesier Abderrazak Zorgui kurz vor seinem Selbstmord im vergangenen Dezember. Er protestiere gegen Arbeitslosigkeit und Armut in seiner Heimatstadt Kasserine im Zentrum Tunesiens. "Wenn nur einer dadurch eine Arbeit findet, dann war mein Tod nicht umsonst", erklärt der Journalist in seiner letzten Nachricht. Wenige Stunden später erliegt er im Krankenhaus seinen Verletzungen und auf den Straßen Kasserines brechen wieder Proteste aus.
Fast genau acht Jahre vor Zorgui hatte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi das Leben genommen und durch seine Selbstverbrennung die tunesische Revolution ausgelöst – den Zündfunken für eine Protestwelle von Ägypten bis in den Jemen, die später als Arabischer Frühling bezeichnet wurde. Seitdem schnellen jedes Jahr vor allem im Dezember die Selbstmordzahlen in Tunesien nach oben. Manche schaffen es wie Zorgui in die internationalen Medien, die meisten aber bleiben unbekannt.
"Was wir seit 2011 sehen, ist ein neues Phänomen, das es vorher nicht gab", sagt Fatma Charfi, Kinderpsychologin und Mitglied des nationalen Fachausschusses zur Prävention von Suizid. "Jemand, der keine Perspektive für die Zukunft und keine Hoffnung hat, bringt sich um. Doch indem er das vor anderen tut, möchte er dem Ganzen eine Dimension von sozialem Protest geben. Das ist eine Nachricht an den Staat: Ich bin gescheitert, aber will nicht, dass andere genauso scheitern wie ich." Die Gruppe der 25- bis 40-Jährigen sei am meisten gefährdet, so Charfi. Und es sei auffällig, dass die Selbstmordrate unter Kindern und Jugendlichen gestiegen sei.
Vielen geht es schlechter als vor der Revolution
Tunesien gilt als Vorzeigeland, wenn es um demokratischen Wandel nach dem Arabischen Frühling geht. Hier ist kein Krieg ausgebrochen wie in Syrien, Libyen oder dem Jemen. Keine Militärregierung hat die Macht an sich gerissen wie in Ägypten. Menschen werden nicht mehr eingesperrt und gefoltert, weil sie ihre Meinung sagen, und Präsident und Parlament werden seit 2011 demokratisch gewählt.
Doch abseits des Demokratisierungsprozesses fühlen sich die Menschen wirtschaftlich abgehängt, vielen geht es schlechter als vor der Revolution. Und sie sind enttäuscht, weil sich ihre großen Erwartungen an den politischen Umbruch nicht erfüllt haben. Seit 2011 steigt die Selbstmordrate im Land, und Selbstverbrennung ist inzwischen die meistgewählte Methode nach dem Erhängen. Zwischen 2011 und 2016 verdreifachte sich die Zahl der Selbstverbrennungen jährlich. 148 Fälle dokumentierten Forensiker in diesem Zeitraum. Wer sich verbrennt, tut dies öffentlich – in der Hoffnung, durch den eigenen Tod etwas zu bewegen.
Die Psychologin Fatma Charfi schloss sich 2015 dem Fachausschuss zur Prävention von Suizid an, der aus Ärztinnen, Forensikern, Psychologinnen, Kinderpsychologen und Erst-Helfern besteht. Dessen Plan war es zunächst die tatsächlichen Suizidzahlen zu recherchieren – denn vor 2015 gab es solche Zahlen offiziell nicht – und im nächsten Schritt Berufsgruppen zu sensibilisieren, die mit diesem Problem in Berührung kommen. Darunter waren 500 Ärztinnen und Ärzte aus ganz Tunesien, aber auch Journalistinnen und Journalisten. Denn wenn die Medien unvorsichtig über Suizid berichteten, könne das Nachahmer dazu motivieren, sich auf ähnliche Weise das Leben zu nehmen, so Charfi.
Nachahmungseffekte im Fall Bouazizi
Ein Grund für die steigende Zahl an Selbstverbrennungen sei die Berichterstattung über Bouazizi gewesen. "Die Medien haben das Bild von Bouazizi, der durch seinen Selbstmord die Revolution ausgelöst hat, sehr stark verbreitet", sagt Charfi. "Dieses Bild führte dazu, dass andere sagten: 'Wenn ich mich schon umbringe, dann soll mein Tod einen Protest auslösen. Man soll von mir sprechen.'" Daher sei es wichtig, nicht die genaue Art des Selbstmordes zu beschreiben, nicht positiv davon zu sprechen und den Toten nicht als Helden zu stilisieren.
Der Nachahmungseffekt allein kann die steigende Selbstmordrate jedoch nicht erklären. Ihr liegt vielmehr eine wirtschaftliche und politische Verzweiflung zugrunde, die nach den großen Erwartungen an die Revolution besonders hart zurückschlug. Nach 2011 stieg die Arbeitslosenquote in Tunesien auf 15 Prozent, bei jungen Menschen ist sie mehr als doppelt so hoch. Auch unter Universitätsabgängern liegt die Quote bei knapp dreißig Prozent.
"Die Mutter aller Probleme für die junge Generation in Tunesien war seit 2011 die Hoffnungslosigkeit", glaubt Aymen N.. Sein guter Freund und Kommilitone Karim S. nahm sich im Herbst 2011 das Leben – ohne öffentlichkeitswirksame Ankündigung, alleine in seiner Wohnung.
Der damals 27-Jährige sei schon mehrere Monate depressiv gewesen, erinnert sich Aymen N.: "Die Revolution war für uns alle ein scheinbar unerreichbarer Traum. Als der Traum Realität wurde, hatten wir große Hoffnungen. Und dass die Realität dann anders aussah, hat Karim irgendwie nicht ertragen können."
Suizid als gesellschaftliches Tabu
Vor allem habe ihn der Wahlsieg der moderat-islamistischen Ennahda-Partei im Sommer desselben Jahres belastet. "Karim hat mehrmals erwähnt, dass es sich nicht lohnt weiterzuleben, wenn nach einer Revolution reaktionäre politische Parteien gewählt werden", sagt Aymen N., der nach den Wahlen selbst mehrere Monate an einer Depression litt. Dann beschloss er das Land zu verlassen. Er fand Arbeit in Madrid und später in Deutschland. Heute lebt der 36-Jährige mit seiner Familie in Aachen.
Aymen N. kennt viele Tunesier, die es genauso gemacht haben wie er. "Hätten wir Hoffnung gehabt, dass die Situation besser wird, wären wir dort geblieben und hätten weitergekämpft", sagt er. "Aber diese Hoffnungslosigkeit hat uns aus dem Land gedrängt, und manche aus dem Leben."
467 Menschen haben im vergangenen Jahr in Tunesien Selbstmord versucht oder begangen. Doch die Dunkelziffer sei enorm, sagt Najla Arfa von der "Tunesischen Beobachtungsstelle für Soziales" (OST). Ihre Organisation sammelt Monat für Monat die Suizidzahlen aus Medienberichten oder durch direkte Informationen von Angehörigen. Im Islam ist Selbstmord verboten, in der tunesischen Gesellschaft ist das Thema noch immer ein Tabu. Wenn sich jemand das Leben nimmt, stellten Angehörige dies oft als Unfall dar, und Hausärzte vertuschten die wahre Todesursache, so Arfa.
Das will sie verändern: "Uns geht es auch darum, den Menschen zu zeigen, dass Gedanken an Selbstmord keine Schande sind, und dass sie nicht die Einzigen sind, denen es so geht." Man müsse sich eingestehen, dass man ein Problem habe, und darüber sprechen, sich Hilfe suchen. Die Leiden der Bevölkerung zu lindern, ist für Arfa aber nicht die Aufgabe von Psychologen, sondern vor allem des Staates. "Hier geht es um Grundrechte: das Recht auf ein Leben in Würde, das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit. All das wird infrage gestellt", so Arfa.
Seit der Revolution können Organisationen wie die OST über Missstände zwar berichten ohne Repressionen zu fürchten. Doch für Arfa ist diese Freiheit kein Selbstzweck, sondern nur der erste Schritt: "Wir versuchen die Brücke zwischen den staatlichen Stellen und der Bevölkerung zu sein", sagt sie. "Das ist meiner Meinung nach der Sinn von Demokratie: die Stimme des Volkes kommt bei der Regierung an, damit diese etwas verändern kann."
Hannah El-Hitami
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