Jeder für sich
Über eine mangelnde Auswahl an Parteien beklagt sich vor den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung in Tunesien wohl niemand – eher über den mangelnden Überblick: Mehr als 100 Parteien sind nach dem Umsturz am 14. Januar zugelassen worden, rund 1.700 Listen treten in den 33 Wahlkreisen des Landes an.
Seit Anfang Oktober ist der Wahlkampf in Tunesien angelaufen – wenn auch streng reglementiert: Jeder Kandidat darf in einem dreiminütigen Fernsehspot sein Programm vorstellen; und an den Häuserwänden prangen fein säuberlich gemalte, durchnummerierte Rechtecke, in denen die Listen ihre Kandidaten präsentieren.
Große Plakate oder aufwändige Fernsehspots gibt es nicht, und die Presse darf seit Wahlkampfbeginn keine Kandidaten mehr interviewen. Jede Partei und jede Liste soll die gleichen Chancen haben, ein demokratisches Tunesien aufzubauen, unabhängig von Medienpräsenz und finanziellen Mitteln. Doch viele der Rechtecke an den Mauern von Tunis sind noch leer, den Kleinstparteien fehlen selbst Geld für die Din A-4-Plakate und Helfer zum Kleben.
Im Zweifel für "Ennahda"
Amin steht in der Innenstadt von Tunis vor einer Reihe schwarzer Kästchen, durchnummeriert von 1 bis 79 – so viele Listen treten in seinem Wahlbezirk Tunis 1 an. Der 24-Jährige will in zwei Wochen zum ersten Mal in seinem Leben wählen gehen. Nur wem er seine Stimme geben wird, das weiß er noch nicht.
"Wenn ich mich nicht entscheiden kann wähle ich halt Ennahdha", sagte der Mathematik-Student schulterzuckend. Dabei hat er mit den moderaten Islamisten inhaltlich eigentlich nichts am Hut. "Immerhin sind die sauber. Die waren ja alle bis zur Revolution inhaftiert. In den ganzen anderen Parteien sitzen dagegen doch ehemalige Mitglieder des RCD."
Ähnlich wie Amin denken nicht wenige Tunesier. Dass die Islamisten bei den Wahlen stärkste Kraft werden, daran zweifelt hier niemand. Rund ein Viertel der gut sieben Millionen Wahlberechtigten hat in den jüngsten Umfragen angegeben, die Ennahdha-Bewegung zu wählen.
Die beiden größten Parteien des linksliberalen Spektrums, die PDP (Demokratische Fortschrittspartei) und Etakatol (Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit) kommen laut Umfragen auf jeweils rund 15 Prozent. Die dritte der etablierten Oppositionsparteien aus der Zeit Ben Alis, die Ettajdid (Erneuerung), hat sich mit vier anderen linksliberalen Parteien zum Bündnis Al-Qotb (Demokratisch-modernistischer Pol) zusammengeschlossen.
"Jeder will sein eigenes Ding machen"
Daneben gibt es noch viele andere kleine Parteien, rund 40 zählt derzeit das linksliberale Spektrum in Tunesien. Ihre Programme unterscheiden sich nur geringfügig voneinander, doch außer Al-Qotb treten sie alle einzeln an.
"Diese Spaltung zwischen den Parteien ist schade, denn die Linke ist historisch stark und müsste eigentlich die stärkste Kraft sein", findet der Blogger und Journalist Haythem El Mekki. "Jeder will sein eigenes Ding machen." Bestes Beispiel dafür sei die PDP, so El Mekki: "Sie ist völlig im Personenkult um ihren Vorsitzenden Nejib Chebbi gefangen und weigert sich, irgendeine Koalition einzugehen."
Neben dem linksliberalen Spektrum haben sich gut 20 Parteien gegründet, deren führende Köpfe aus der ehemaligen Regierungspartei stammen. Am bekanntesten ist Al-Moubadara (Die Initiative) um Kamel Morjane, den Außenminister der letzten Regierung Ben Alis. Immerhin werden ihnen drei Prozent bei den anstehenden Wahlen vorausgesagt.
Für die Menschenrechtlerin Sihem Bensedrine, eine der bekanntesten Gesichter im Kampf gegen das System Ben Ali, sind Parteien wie Al-Moubadara Teil der Konterrevolution, die Tunesien bedroht. "Die Leute aus dem alten Regime, der Geheimdienst und das Militär sind eine Gefahr für die Revolution", ist sie überzeugt. Sie befürchtet, dass es in Tunesien nach den Wahlen zu einem "algerischen Szenario", einer verdeckten Militärdiktatur kommt. "Ich habe Angst vor der Konterrevolution. Vielleicht versuchen diese Kräfte sogar, am Wahltag selbst die Wahllokale anzugreifen um die Leute vom Wählen abzuhalten, so dass viele aus Unsicherheit zu Hause bleiben."
Die gleichen Köpfe wie früher
Die Kräfte des alten Regimes sind das größere Problem als die Islamisten, ist sich Haythem El Mekki mit Bensedrine einig. "Das Problem ist nicht Ennahdha, sondern die hysterische Reaktion auf die Partei." Zumindest auf dem Papier präsentiert sich Ennahdha moderat, sogar das tunesische Personenstandsrecht, das seit 1956 den Tunesierinnen weitestgehende Gleichberechtigung garantiert, bezeichnet die Partei als schützenswert.
Der vielfach heraufbeschworene Kampf zwischen Islamisten und Säkularisten sei primär das Ergebnis von 23 Jahren Diktatur unter Ben Ali, meint der Journalist, der im Fernsehen eine medienpolitische Talkshow moderiert. "Wir haben eine Bevölkerung, die keinerlei politische Kultur hat. Sie wissen nicht mal, was Laizismus bedeutet, und dann denken sie: die sind gegen die Islamisten, also sind sie gegen die Religion."
Der Konflikt sei auch von den Medien heraufbeschworen worden. Dabei hätten die meisten Tunesier viel dringendere, vor allem wirtschaftliche Sorgen. Wirklich radikale, salafistische Strömungen seien zu schwach um das Land zu destabilisieren. "Wir werden keine Kehrtwende machen, dazu ist die Zivilgesellschaft viel zu stark und zu aufmerksam. Wir sind weder der Iran noch Ägypten", sagt El Mekki, der ausgesprochen optimistisch auf die bevorstehenden Wahlen schaut.
Damit die Revolution erfolgreich vollendet und Tunesien irgendwann die erste echte Demokratie Nordafrikas wird, sei es noch ein weiter Weg, meint Sihem Bensedrine. "Die größten Herausforderungen stellen die Übergangsjustiz, das Innenministerium und die Reform des Polizeiapparats dar." Denn dort sitzen nach wie vor die gleichen Personen wie am 14. Januar an den zentralen Hebeln der Macht.
Als der Richter Farhat Rajhi, im Frühjahr für wenige Wochen Innenminister, im Sicherheitsapparat des Landes aufräumen wollte, wurde er von einem Teil seiner Angestellten fast gelyncht und konnte nur knapp aus dem eigenen Ministerium flüchten. Wenig später wurde er kommentarlos entlassen und mit Habib Essid, einem Ben Ali-Getreuen, im Ministerium eingesetzt.
"Solange sich in diesen Bereichen nichts ändert, kann Tunesien auch kein demokratischer Staat werden", meint Bensedrine. Doch die Wahlen, so hofft sie jedenfalls, könnten das Land zumindest auf den richtigen Weg bringen.
Sarah Mersch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de