Die Bewegung scheint am Ende, aber ihre Gedanken leben
Die Ablehnung Pegidas durch eine breite Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit, so wichtig und beeindruckend sie gewesen ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wesentliche Elemente des Gedankenguts, auf das sich Pegida beruft, bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichen und von zahlreichen Denkern, Wissenschaftlern, Publizisten, Politikern und Medien seit vielen Jahren mit verblüffendem Erfolg propagiert werden.
Die allgemeine Distanzierung von Pegida deshalb Augenwischerei zu nennen, wäre übertrieben. Aber ohne Auseinandersetzung mit den dahinterstehenden Ideologien, Meinungsbildern und Ressentiments bleibt sie oberflächlich und billig. Und es könnte so scheinen, als würde die Ablehnung mehr die äußere Gestalt des Protests als die dahinterstehenden Inhalte betreffen, die in anderer Verpackung durchaus wieder einen Platz in der Politik und in den Medien einnehmen können – so wie sie ihn immer schon eingenommen haben.
Gemeinsamer Nenner
Aus dem Knäuel an Meinungen und Ideologemen, die für Pegida charakteristisch sind, ragt ein Element als gemeinsamer Nenner heraus. Es ist der Teil des Namens von Pegida, der bleibt, wenn sich die Vorsilbe ändert: "Gegen die Islamisierung des Abendlandes".
Die Rede (der Mythos, die Mär) von der angeblich bevorstehenden oder sich bereits vollziehenden Islamisierung des Abendlandes ist die Kernaussage einer Lehre, die unter dem beschönigendem Titel Islamkritik ein selbstverständlicher Bestandteil des deutschen und europäischen Meinungsspektrums geworden ist – ein so selbstverständlicher Bestandteil, dass viele an der Verbreitung dieser Lehre mitwirken, die sich über die Implikationen offenbar nicht im Klaren sind.
Es lohnt sich an dieser Stelle, kurz aufzuzeigen, wie tief diese Lehre – oder Ideologie – bis in die Mitte der Zivilgesellschaft durchgedrungen ist und wie selbst solche Akteure, die über den Vorwurf des Rassismus erhaben sind, ihr unbewusst aufsitzen. Niemand würde zum Beispiel auf die Idee kommen, den Börsenverein des Deutschen Buchhandels und den vom ihm alljährlich gestifteten Friedenspreis mit Pegida, Rassismus und anti-islamischen Hetzschriften in Verbindung zu bringen. Und doch ist, ohne dass der Börsenverein dafür direkt verantwortlich gemacht werden könnte, selbst das mittlerweile möglich geworden.
2011, im Jahr der arabischen Revolutionen, erhält der auf Französisch schreibende algerische Autor Boualem Sansal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Man kann über die Gründe spekulieren, warum ausgerechnet dieser nur mäßig bedeutende Autor in jenem historischen Jahr den angesehensten in Deutschland vergebenen Preis erhält, aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels durch diesen Preis unbewusst einem Autor Glaubwürdigkeit verliehen hat, der die Schlagworte des anti-islamischen Ressentiments unreflektiert verbreitet.
Zementierung islamkritischer Ressentiments
Der Titel seines letzten, 2013 erschienenen Buchs lautet: "Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert" (Merlin Verlag, Gifkendorf 2013). Sansal, der als frankophoner Berber von den arabischen Dschihadisten im algerischen Bürgerkrieg unmittelbar bedroht war, hat handfeste persönliche Gründe, sich über die Entwicklungen im Islam und die Gewalt im Namen dieser Religion zu beklagen und davor zu warnen, und es ist sein gutes Recht. Aber schon der Untertitel seines Buchs tut mehr und anderes: Er zementiert ohne sachliche Grundlage das islamkritische Ressentiment, aus dem er erwachsen ist. Wer die befremdliche Frage stellt, wie der Islamismus die Welt erobert, suggeriert, dass diese Eroberung der Welt durch den Islamismus stattfindet.
Die Eroberung der ganzen Welt? Bei Pegida ist es immerhin nur das Abendland, könnte man spotten. Auffälligerweise ist der französische Titel: "Gouverner au nom d'Allah. Islamisation et soif de pouvoir dans le monde arabe", trotz des hier wie bei Pegida auftauchenden Begriffs der Islamisierung ("Islamisation") differenzierter und – auch schon im Obertitel – sachlicher als der deutsche, weil er die Islamisierung eben allein für die arabische Welt konstatiert.
Die bei Sansal im Original allenfalls angedeutete Stoßrichtung wird vom deutschen Verlag auf unverantwortliche Weise verallgemeinert und als "Islamisierung der Welt" mit den Dogmen der Islamkritik kompatibel gemacht.
Weder Verlag noch Autor, die sich gegen jede Nähe zu Pegida sicherlich entschieden verwahren würden, haben offenbar ein Gespür für den Missbrauch, der mit dem Islamthema getrieben wird.
Wie so viele, die sich dazu äußern, dürfen wir davon ausgehen, dass sie nicht die Absicht haben, anti-islamisches Ressentiment zu schüren, fremdenfeindliche Ideologeme zu verbreiten und mit dem Prüfsiegel des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den Pegida-Aktivisten die Argumente in die Hände zu spielen. Doch das mangelnde Gespür vermählt sich in diesem Fall wie in vielen anderen auf unschöne Weise mit der Spekulation auf die bessere Verkäuflichkeit des reißerischen islamkritischen Titels.
Islamkritik als Geschäft
Denn nicht zuletzt ist Islamkritik ein Geschäft. Wollte ich als Autor mit dem Islamthema Geld verdienen, müsste ich sofort die Seiten wechseln. Und hält man die Verkaufszahlen seriöser Bücher über den Islam einerseits, islamkritischer Schriften andererseits gegeneinander, wird einem aufgeklärten Menschen schwarz vor Augen.
Und so passiert es, dass aus der sachlich immerhin vertretbaren Aussage einer "Islamisierung in der arabischen Welt", wie es bei Sansal im französischen Untertitel heißt, eine "Eroberung der Welt" an und für sich wird.
Sansal und sein deutscher Verlag sind nur ein vergleichsweise harmloses Beispiel für die in ihrer Problematik kaum noch wahrgenommene Präsenz Pegida-naher islamkritischer Phrasen selbst in einer sich als politisch korrekt begreifenden und kulturaffinen Öffentlichkeit.
Ruft man bei Amazon den Titel von Sansal auf, erfährt man, wofür sich die Käufer dieses Buchs sonst interessieren, und sogleich bekommt man (wen wundert's?) eine ganze Palette übelsten islamkritischen Schrifttums auf dem Bildschirm ausgebreitet.
Schaut man sich an, um wen es sich bei den dort auftauchenden Autoren handelt, in welchen Verlagen sie veröffentlichen, welche Medien ihnen ein Forum bieten, wer sie einlädt, verteidigt, hofiert und mit Ehrungen, Preisen, Professuren auszeichnet; schaut man sich an, welche Ideen genau diese Menschen verbreiten und vergleicht man diese Ideen dann mit denen, die für Pegida zentral sind, so weiß man, dass Pegida kein Randphänomen ist und dass, wenn Pegida demnächst von den Straßen verschwunden ist, die Gedanken, die Pegida hervorgebracht haben und die wir seit langem kennen, bleiben werden.
Wenn der Widerstand gegen Pegida ernst genommen und ihm zur Nachhaltigkeit verholfen werden soll, muss den islamkritischen Propagandisten die Maske vermeintlicher Ehrbarkeit abgerissen werden. Die Islamkritik gut zu finden, den Straßenprotest von Pegida aber zu verurteilen, ist in etwa so heuchlerisch, als würde man die Homosexualität an und für sich zwar gutheißen, ja sogar eifrig praktizieren, sich von der öffentlichen Zurschaustellung in Form eines Christopher Street Days aber distanzieren, ja seine Abscheu dagegen bekunden und sagen, dass man es soweit nun doch nicht treiben wolle.
Was, wenn nicht Pegida, hat Thilo Sarrazin, haben seine vielen hunderttausend begeisterten Leser, haben die unzähligen Leser all der anderen Islamkritiker gewollt? Wer aber nun, wie wohl alle Pegida-Mitmarschierer, der Rhetorik der Islamkritiker auf den Leim gegangen ist und geglaubt hat, mit der schweigenden Mehrheit im Rücken auf der Straße zu stehen, könnte sich verraten fühlen.Jahrzehntelang hat man den Leuten die Welteroberungssucht des Islams vorgebetet, mit Duldung des gesamten politischen Establishments sogar einen Bundespräsidenten aus dem Amt gejagt, der in dieses Gebet nicht mit einstimmen, ja, welch eine Chuzpe!, nicht einmal dazu schweigen wollte, und wundert sich dann, dass die Leute aus Wut auf die Straße gehen, wenn sie sehen, dass die anti-islamische Stimmung zwar weit verbreitet ist, sich aber nicht in eine spürbare Politik umsetzt.
Da standen sie dann im Winter auf der Straße, und es wurde ihnen von denjenigen, die ihnen die Ideen gegeben und sie aufgestachelt haben, gesagt: Ihr seid Rassisten! Wenn das keine Niedertracht ist, was wäre Niedertracht dann? Fast könnte man Mitleid mit Pegida bekommen.
Das Dilemma der Islamkritik
Das Dilemma von Pegida ist aber nichts anderes als das Dilemma der Islamkritik selbst. Man hat inzwischen guten Grund zu der Annahme, dass es hinter der islamkritischen Bewegung überhaupt keine konkrete politische Agenda gibt. Sie ist, ganz wie Pegida, viel zu heterogen dafür, besteht aus Rechten und Linken, hat Anhänger in allen unseren Parteien, vereint Marxisten und Neonazis, Alt-68er wie Bazon Brock und junge Neoliberale wie Bernd Lucke, Antisemiten und Pro-Israel-Aktivisten, Feministinnen und Zigarrenraucher, Homosexuelle und Schwulenhasser, Putinisten und Transatlantiker, radikale Laizisten und radikale Christen und nicht zuletzt unzählige Muslime mit großer, nicht selten nachvollziehbarer, aber leider oft sehr undifferenzierter Wut auf die Kultur ihrer Herkunft.
All diese Widersprüche, die sich in den Pegida-Demonstrationen jeden Montag gespiegelt haben, machen aus der Islamkritik eine zugleich unmögliche und perfekt getarnte, sich nie in ihrer Gesamtheit zu erkennen gebende, beinah guerillahaft agierende, aber letztlich apolitische Bewegung.
Die eigenartige Spaltung in Deutschland, die sich an der Ablehnung Pegidas einerseits, der Allgegenwart islamkritischer Vorurteile andererseits zeigt, dürfte auch damit zu erklären sein, dass die meisten Menschen trotz eines leisen Unbehagens mit der Situation und Politik in Deutschland letztlich einigermaßen zufrieden sind und an einer großen Wende der Politik, sei es nach rechts, sei es nach links, kein Interesse haben.
Statt also das Unbehagen politisch umzumünzen, pflegt man, um sein Mütchen zu kühlen, das anti-islamische Ressentiment, ohne doch deswegen gleich im Winter und bei Regen auf die Straße gehen zu wollen. Noch scheint die Regierung alles im Griff zu haben, und mit den Neonazis, die eben auch bei Pegida mitmarschieren, will nun wirklich niemand etwas zu tun haben.
Zwischen Bewusstseinsspaltung und weltanschaulicher Schizophrenie
Wollen wir von dieser Bewusstseinsspaltung und weltanschaulichen Schizophrenie – gegen Pegida, aber nicht gegen Islamkritik – abkommen, müssen wir uns und unsere Weltbilder gründlicher in Frage stellen als bisher. Dann genügt es nicht, durch die simple Ablehnung von Pegida unsere anti-rassistische Gesinnung kundzutun und ansonsten den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Denn es geht dabei nicht um unser Seelenheil, vielmehr hat die Haltung der Mehrheitsgesellschaft zu den im Land lebenden Minderheiten unmittelbare praktische Konsequenzen.
Es ist unmöglich, Phänomene wie das Massaker von Anders Breivik am 22.7.2011 in Norwegen, wie den Dresdener Gerichtssaalmord am 1.7.2009, den Brand von Asylbewerberunterkünften und erst recht die langjährige Mordserie der NSU zu verstehen und in Zukunft derartiges zu verhindern, ohne zu begreifen, dass die Täter nicht nur von der Islamkritik indoktriniert waren, sondern davon ausgegangen sind und sich mit guten, statistisch belegbaren Gründen einbilden durften, im Namen vieler, wenn nicht einer schweigenden Mehrheit der Bevölkerung zu handeln.
Wenn der Islam, wie alle, sogar Friedenspreisträger, sagen, "mit dem Schwert", so die beliebte Phrase, die Welt erobert, warum darf man sich dann nicht ebenfalls mit Waffen dagegen wehren, lautet die gar nicht so unlogische Logik der Mörder völlig unschuldiger und – aber darauf hinzuweisen, kommt fast schon einem Kotau vor der Islamkritik gleich, denn es ist völlig egal – bestens integrierter Menschen.
Stefan Weidner
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