Fluch der Ressourcen
Es war kaum mehr als ein Gerücht: Beim Besuch des marokkanischen Königs Mohammed VI. Ende Mai in Tunis kam es zum diplomatischen Zerwürfnis mit dem tunesischen Präsidenten Moncef Marzouki. Auslöser war die Kritik der jungen Demokratie Tunesien an den undemokratischen Praktiken Marokkos gegenüber der Westsahara und am schlechten Verhältnis zum Nachbarn Algerien. So berichtete es das tunesische Onlinejournal businessnews.com.tn mit Verweis auf nicht näher genannte "diplomatische Quellen" – das Dementi aus dem Präsidentenpalast folgte unmittelbar.
Es mag tatsächlich nur ein Gerücht gewesen sein, doch mehrt es die jüngsten Anzeichen dafür, dass Bewegung in einen 40 Jahre währenden Konflikt kommt, der die letzten 25 Jahre vor allem durch Stillstand gekennzeichnet war: der Streit um die Westsahara. Im Gegensatz zum Nahostkonflikt gehört die Auseinandersetzung um die Westsahara zu den vergessenen Krisen unserer Zeit.
Dabei schreibt sie ähnliche Geschichten von Vertreibung und Familientrennung, von Unterdrückung und Marginalisierung, von Neusiedlern und Generationen in Flüchtlingslagern. Von Diskriminierung, Foltergefängnissen und Menschenrechtsverletzungen, von Terrorismus und einer Sperranlage, die das Territorium im Herzen zerschneidet und eine freie Bewegung unmöglich macht. Von Führungseliten, denen nicht an der Lösung des Konflikts gelegen scheint, und von einer macht- und mittellosen internationalen Gemeinschaft, die nur zusehen, aber nicht eingreifen kann. Doch einen wesentlichen Unterschied gibt es: Die Westsahara ist reich an Bodenschätzen und auch deshalb begehrtes Territorium – der Fluch der Ressourcen.
Ausgetragen wird der Konflikt hauptsächlich zwischen der ehemaligen Rebellengruppe Frente Polisario für eine "Demokratische Arabische Republik Sahara" (DARS) und Marokko. Tatsächlich aber sind mehr Parteien involviert und jede verfolgt ihre eigenen undurchsichtigen Interessen: Algerien, Mauretanien, Spanien, Frankreich oder die USA. Der deutlichste Indikator dafür, wie festgefahren die Situation bisher war, ist das UN-Mandat MINURSO ("Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara Occidental"), das seit 1991 unermüdlich Jahr für Jahr erneuert wird, obwohl es politische Resultate schuldig geblieben ist.
Ressourcen gegen Identität und Selbstbestimmung
Im Zentrum des Konflikts steht die Ausbeute von wertvollen Ressourcen wie Phosphat, Fisch und Erdöl, die der marokkanische Staat für sich allein beansprucht und die in Zeiten der Wirtschaftskrise und der zunehmenden Arbeitslosigkeit zu hart umkämpften Schätzen werden. Außerdem spielt die geostrategische Lage der Region eine Rolle. Für die Sahrauis aber geht um viel mehr, um Identität, Zusammengehörigkeit, Freizügigkeit und das Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen Staatsgebiet.
Für Marokko lohnt sich der finanzielle und logistische Aufwand der Besatzung, denn die Ausbeute der reichen Fischbestände und die Vergabe von Fischereilizenzen an die EU, die Plünderung der weltweit mit größten Phosphatvorkommen und der massenhafte Export von Tomaten oder Salz schwemmt ungeheure Summen in die Staatskassen, schafft Arbeitsplätze und trägt zu einem wesentlichen Teil zum Bruttoinlandsprodukt Marokkos bei.
Außerdem sollen erhebliche Erdöl- und Erdgasreserven entlang des 2.200 Kilometer langen Küstenstreifens lagern. Europäische Energiekonzerne, darunter die französische Total, haben schon vor Jahren Bohrlizenzen erworben. Das schlechte Image wird in Marokko vor diesem Hintergrund in Kauf genommen. An Umsätzen oder wenigstens Arbeitsplätzen werden die Sahrauis selten beteiligt, sie kommen marokkanischen Siedlern zugute.
Eine Mauer quer durch die Wüste
Um die Pfründe zu schützen, hat Marokko seit Anfang der 1980er Jahre an einem drei Meter hohen Sandwall ("Berm") quer durch die Wüste gebaut. Er trennt den marokkanisch besetzten und verwalteten Teil der Westsahara von der "Freien Zone", die von der Befreiungsbewegung Polisario kontrolliert wird. Sie erstreckt sich vom Dreiländereck Marokko, Algerien und Mauretanien im Norden über eine Strecke von gut 2.500 Kilometern bis ans Südende der Westsahara. Der Sandwall ist vollständig mit Soldaten bemannt und zudem durch Landminen gesichert.
Die Sahrauis nennen ihn "Al-Jidar", die Mauer, und auch aus diesem Grunde ist er schon oft mit der israelischen Sperranlage oder der Berliner Mauer verglichen worden. Er macht es den in getrennten Gebieten lebenden Familien unmöglich, ihre Angehörigen im jeweils anderen Teil zu sehen. Und das betrifft fast alle Sahrauis, denn in der Zeit der bewaffneten Auseinandersetzung mit Marokko von 1975 bis 1991 ist so gut wie jede Familie auseinandergerissen worden. In das kollektive Gedächtnis der Sahrauis sind so auch Geschichten von verlorenen Gliedmaßen und Minentoten eingegangen.
In der "Freien Zone" haben sich die Vertriebenen seit Mitte der 1970er Jahre in Flüchtlingslagern rund um Tindouf am westlichsten Zipfel Algeriens angesiedelt. Die Flüchtlingsorganisation UNHCR geht von knapp 120.000 heute dort lebenden Flüchtlingen aus, die algerische Regierung schätzt ihre Zahl aber auf weit über 150.000. Mehrere Generationen kennen demnach keine andere Heimat als die Lager. Immerhin erinnern die Namen der Zelt- und Hüttenstädte noch an die Orte am Atlantik, aus denen Eltern und Großeltern einst vertrieben wurden: Laayoune, Smara, Ausert, Dakhla.
Spielball der Mächtigen
Auf ihren Schultern wird das Gerangel der mächtigen Staaten um Geld, Einfluss und politische Interessen ausgetragen. Die USA beispielsweise haben sich lange Zeit von der Rhetorik Marokkos beeindrucken lassen, wonach die Annexion der Westsahara und die Errichtung eines Sandwalls den Interessen der Vereinigten Staaten diene: während des Kalten Kriegs zunächst im Kampf gegen den Kommunismus (Polisario-Rebellen), heute im Kampf gegen den Terrorismus (Polisario-Rebellen).
Entsprechend unvorbereitet traf Marokko im April 2013 die Forderung der Obama-Regierung im UN-Sicherheitsrat nach einer Resolution, nach der im Rahmen des MINURSO-Mandats endlich auch über die Einhaltung von Menschenrechten gewacht werden soll.
Angesichts der Meldungen von Foltergefängnissen und Internierungslagern scheint dies bitter nötig. Marokko antwortete mit dem Aussetzen der gemeinsamen Truppenübungen, die USA zogen ihren Vorschlag zurück und so bleibt MINURSO die einzige Friedensmission der UN ohne die Menschenrechtsklausel.
Kein Referendum in Sicht
Auch das Referendum, bei dem die Bewohner der Westsahara über ihre künftige Staatsform abstimmen sollen – zusammen mit der Repatriierung der Vertriebenen der eigentliche Zweck des Mandats –, ist bisher nicht zustande gekommen. Es scheitert an Diskussionen über Territorialgrenzen und darüber, wer abstimmungsberechtigt sein soll: nur Sahrauis oder auch marokkanische Siedler, die eine zahlenmäßige Mehrheit anstreben?
Die von Algerien gegen Marokko unterstützte Führungselite der Polisario bildet keine Ausnahme bei der Durchsetzung persönlicher Machtinteressen. Sie muss sich Kritik aus den eigenen Reihen gefallen lassen, bei ihr handele es sich inzwischen um eine in die Jahre gekommene Rebellentruppe, die sich in der Diaspora allzu bequem eingerichtet habe und gar nicht mehr an einer Lösung des Konflikts interessiert sei.
Widerstand formiert sich vor allem unter der jungen Generation der Sahrauis – am prominentesten in der oppositionellen "Jugendbewegung für den Wandel" –, die der alten Garde vorwirft, sie orientiere sich zu sehr an Algerien und nehme Korruption, Machterhalt und Postengeschachere billigend in Kauf.
Marokko fürchtet um sein Einflussgebiet
Ein Zeichen der Hoffnung auf Veränderung zeichnete sich im April 2014 ab. Kurz vor Verabschiedung der neuen MINURSO-Resolution erklärte Frankreich, sich bei der Menschenrechtsklausel enthalten zu wollen. Obwohl dies der traditionellen Haltung Frankreichs seit 1980 entspricht, wertete Marokko die Entscheidung als politischen Affront und ließ diplomatische Konsequenzen folgen.
Die marokkanische Nervosität lässt darauf schließen, dass man mit Umbrüchen rechnet. Die Kräfteverhältnisse in der Region haben sich geändert durch die aktuellen politischen Prozesse – die Demokratisierung Tunesiens, die äußerst fragile Stabilität in Algerien, den drohenden Bürgerkrieg in Libyen, das Aufbegehren der Minderheiten. Dies könnte auch zu einer Neuverhandlung des Westsaharakonflikts führen. Eine unabhängige Republik hingegen scheint in weite Ferne gerückt zu sein, solange sich alle einflussreichen Akteure in dem Konflikt mit einem Patt arrangieren. Die Leidtragenden bleiben die Sahrauis.
Susanne Kaiser
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de