Ein Marschall-Plan für die arabische Welt?
Der erste Trend betrifft die Levante. Die post-osmanische Ordnung, die vor einem Jahrhundert entstand – und auf säkularem arabischem Nationalismus beruhte – ist bereits zerfallen. Die beiden Staaten, die dieses System trugen, der Irak und Syrien, haben ihre zentrale Autorität verloren und werden mindestens über eine Generation lang politisch zersplittert und sozial polarisiert bleiben.
Im Libanon bleibt Politik auf Basis religiöser Zugehörigkeiten das definierende Charakteristikum. Jordanien hat im Hinblick auf die Flüchtlingsaufnahme einen Sättigungspunkt erreicht und die fortgesetzten Flüchtlingszuströme sorgen für eine weitere Verknappung der ohnehin begrenzten Ressourcen. Und auch hinsichtlich des israelisch-palästinensischen Konflikts lassen sich am politischen Horizont keinerlei neue Initiativen oder Umstände erkennen, die eine Lösung des völligen Stillstandes ermöglichen würden.
Der Nahe Osten wird mit Sicherheit mit fortgesetzten Migrationsbewegungen einer großen Zahl an Menschen konfrontiert sein, die sich zunächst in ruhigere Gebiete der Region und in vielen Fällen darüber hinaus – in erster Linie nach Europa – begeben werden. Außerdem dürften der Region auch verstärkt Auseinandersetzungen um nationale Identitäten und vielleicht auch um die Neuziehung von Grenzen bevorstehen – Prozesse, die weitere Konfrontationen auslösen werden.
Der zweite bedeutende Trend betrifft Nordafrika. Die bevölkerungsreichsten Staaten der Region – Algerien, Ägypten und Marokko – werden die sozialen und politischen Ordnungssysteme, die in den letzten sechs Jahrzehnten ihrer postkolonialen Geschichte verankert wurden, beibehalten. Die Herrschaftsstrukturen in diesen Ländern genießen breite Unterstützung in der Bevölkerung sowie auch von einflussreichen Institutionen wie etwa Gewerkschaften und Landwirtschaftsverbänden. Überdies verfügt man über wirksame Druckmittel, die als Schutz für relative Stabilität dienen.
Fehlende Perspektiven für die jüngere Generation
Doch nichts von alldem garantiert diesen Regierungen ruhiges Fahrwasser. Im Gegenteil: sie müssen sich mit einer massiven Zunahme der jungen Bevölkerung auseinandersetzen, wobei zwischen heute und dem Jahr 2025 über 100 Millionen Menschen unter 30 Jahren auf den nordafrikanischen Arbeitsmarkt drängen werden. Und die überwiegende Mehrheit dieser jungen Menschen werden als Abgänger der gescheiterten Bildungssysteme der Region wohl vollkommen unqualifiziert für die meisten Jobs sein, die ihnen eine Chance auf soziale Mobilität bieten.
Um diese jungen Araber in Brot und Arbeit zu bringen, eignen sich am besten die Sektoren Tourismus, Bauwesen und Landwirtschaft. Doch ein florierender Tourismussektor ist nicht vorhanden – nicht zuletzt aufgrund der Wiederkehr des militanten Islamismus, der Nordafrika zu einem Risikogebiet für Terroranschläge gemacht hat. Ein Trend, der sich in nächster Zeit noch verstärken dürfte.
Überdies untergraben ein rückläufiger Anteil auf dem europäischen Lebensmittelmarkt und sinkende Investitionen in Immobilien die Chancen junger Arbeitnehmer in der Landwirtschaft und im Bauwesen. Die wahrscheinliche Folge des Überhangs an jungen Menschen in Nordafrika sind erneute soziale Unruhen und zu erwartende, beträchtliche Migrationsströme nach Europa.
Der Golf bot in dieser Hinsicht lange ein regionales Sicherheitsventil. Mehr als fünfzig Jahre lang nahmen Golfstaaten Millionen Arbeitnehmer auf – in erster Linie aus der unteren Mittelschicht ihrer arabischen Nachbarländer. Außerdem fungierte der Golf als Hauptquelle für Investitionskapital, von den zig Milliarden Dollar an Geldsendungen in die Herkunftsländer in der Region ganz zu schweigen. Und viele arabische Länder betrachteten die Golfregion auch als Kreditgeber letzter Instanz.
Ökonomischer Umbruch am Golf
Doch die Ökonomien am Golf – und darin liegt auch der dritte bedeutsame Trend – verzeichnen gerade eine industrielle Diversifizierung, was wiederum ihre Abhängigkeit von gering qualifizierten ausländischen Arbeitskräften reduzieren dürfte. Daher ist in den kommenden Jahren damit zu rechnen, dass die Golfstaaten weniger Arbeitnehmer aus der restlichen arabischen Welt aufnehmen und weniger Kapital dorthin exportieren werden.
Der Golf könnte sogar zunehmend destabilisiert werden. Mehrere Golfmächte und der Iran sind in einen teilweise religiös motivierten Stellvertreterkrieg im Jemen verwickelt – der nicht so bald zu Ende gehen wird. Und mittlerweile haben sich fünf sunnitische Staaten gegen einen der ihren gewandt, nämlich gegen Qatar, das seit einer Generation seine eigene regionale Agenda verfolgt. Der Druck, der sich auf der gesamten südlichen Arabischen Halbinsel gegenwärtig aufbaut, könnte weitere politischen Schocks auslösen.
Umso wahrscheinlicher ist dies angesichts des wachsenden innenpolitischen Reformdrucks einer technologisch versierten und global agierenden Bevölkerung. Die Reform jahrhundertealter sozialer und politischer Strukturen wird dabei ebenso schwierig sein wie sie notwendig ist.
Umstrittene Rolle der Religion
Der vierte Trend betrifft die gesamte arabische Welt sowie auch den Iran und die Türkei: die gesellschaftliche Rolle der Religion ist zunehmend umstritten. Die Kriege und Krisen der letzten sechs Jahre machten große Teile des Fortschritts zunichte, den der politische Islam in den zehn Jahren vor den Aufständen des sogenannten Arabischen Frühlings im Jahr 2011 verzeichnet hatte. Da sich einerseits der Radikalismus zunehmend verankert, andererseits aber junge Muslime mit einem aufgeklärten Verständnis ihrer Religion aufwarten, tobt momentan eine Schlacht um die Seele des Islam.
Für die Spitzenpolitiker innerhalb und außerhalb der arabischen Welt ist es unmöglich, alle mit diesen vier Trends verbundenen Probleme auf einmal zu lösen, insbesondere in einer Zeit des aufsteigenden Populismus und Nativismus im gesamten Westen. Dennoch sollten Maßnahmen ergriffen werden. Der Schlüssel besteht darin, sich eher auf sozioökonomische als auf geopolitische Fragen zu konzentrieren.
Der Westen darf sich keinen Illusionen hinsichtlich der Neuziehung von Grenzen oder der Bildung neuer Länder hingeben; derartige Bestrebungen führen nur letztlich nur in die Katastrophe. Eine vielversprechende Option wäre, einen umfassenden Marschall-Plan für die arabische Welt zu konzipieren.
Kluge Investitionen im Bildungsbereich
Doch im Zeitalter der Sparpolitik fehlt es vielen westlichen Ländern an Ressourcen – und noch viel mehr an öffentlicher Unterstützung für derartige Bemühungen –, wobei die meisten Länder der arabischen Welt heute ohnehin nicht das gesamte Potenzial eines derartigen Plans ausschöpfen könnten.
Sehr wohl jedoch kann man – innerhalb und auch außerhalb der Region – umfangreiche und kluge Investitionen in den primären und sekundären Bildungsbereich ebenso tätigen wie in Klein- und Mittelbetriebe (die das Rückgrat der arabischen Ökonomien bilden) sowie in erneuerbare Energiequellen (die die Aufwärtsentwicklung regionaler Wertschöpfungsketten untermauern könnten).
Eine derartige Agenda wird die Auflösung des modernen arabischen Staates in der Levante nicht aufhalten. Sie wird in Nordafrika auch keine funktionsfähigen Gesellschaftsverträge generieren und sie wird mit Sicherheit nicht für die Aussöhnung des Religiösen mit dem Säkularen sorgen. Aber durch den Versuch, sich der sozioökonomischen Frustration der jungen Menschen anzunehmen, kann diese Agenda viele der längerfristigen Folgen dieser Trends abschwächen.
Tarek Osman
© Project Syndicate 2017
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
Tarek Osman ist Autor der beiden Sachbücher "Islamism: What It Means for the Middle East and the World" und "Egypt on the Brink".