Was bleibt von den Arabern?
Aus trockenem Brot haben die Generäle Schachfiguren geformt. Sie schlagen noch einmal die Schlachten, in deren Verlauf sie den König schützen, auch wenn die Welt um ihn herum zusammenbricht. Das Brot, den Rohstoff für die Spielfiguren, haben die Generäle sich vom Munde abgespart.
Die sieben Generäle hatten in der irakischen Armee gedient. Kritiklos hatten sie den Befehlen ihres Oberkommandierenden gehorcht. Einer von ihnen bedauert, den Kopf des Königs nicht mit dem Säbel abgeschlagen zu haben, als es noch nicht zu spät war. Jetzt können sie ihre Kriegskunst nur mehr auf einem Schachbrett ausspielen, das sie sich als Gefangene im US-amerikanischen Internierungslager Bucca zusammengebastelt haben. Dabei sind sie zur fortwährenden Wiederholung ihres Fehlers verdammt, den König zu schützen.
Die Episode der sieben in amerikanische Kriegsgefangenschaft geratenen Generäle wird vom irakischstämmigen Schriftsteller Shakir Nuri in seinem 2012 erschienenen Roman "Madjanin Bucca" ("Die Verrückten von Camp Bucca") erzählt. Eigentlich handelt es sich um einen notdürftig fiktionalisierten Bericht aus dem Gefangenenlager, das die US-Armee nach der Invasion in der südirakischen Wüste errichtet hatte. Die sieben Generäle werden, wie viele andere Gefangene auch, von den Siegern hingerichtet.
Das Versagen der Eliten
Nuris Beschreibungen vom Handeln, Denken und Fühlen, vom Leben und Tod der Gefangenen liest sich wie eine schneidende, schonungslose Metapher auf den Zustand der arabischen Staaten und Gesellschaften. Oder kurz: den Zustand der Araber. Die sieben gefangenen Generäle stehen für das Versagen der arabischen Funktionseliten.
Die "enttäuschten Erwartungen" nach dem Arabischen Frühling 2011, "Bürgerkriege" in Libyen, Syrien, Irak und im Jemen, "Rückständigkeit" und "religiöser Fanatismus" sind Schlagworte, mit denen internationale Medien den Zustand weiter Teile der arabischen Welt, nicht unzutreffend, umreißen. Inzwischen muss man aber fragen, ob solche wenig hoffnungsfrohen Zustandsbeschreibungen nicht sogar krasse Untertreibungen der wahren Lage darstellen und am Kern vorbeigehen.
Überlebt die arabische Identität? Überlebt die arabische Kultur? Das ist die Frage, die sich heute stellt. Dieses große Ganze steht, angesichts der politisch-sozialen Abwärtsspirale, inzwischen auf dem Spiel.
Bürgerkriege können beendet werden, politische Erwartungen an Freiheit und Gerechtigkeit können sich theoretisch ein bisschen später erfüllen. Aber sind die Verwüstungen in der Realität nicht schon zu tief, als dass sich eine glückliche arabische Gesellschaft neu formieren könnte?
Zertrümmerte Seelen
"Unsere Seelen sind zertrümmert", lässt Shakir Nuri einen Überlebenden von Bucca sagen. Das erste, was ein anderer überlebender Protagonist nach seiner Freilassung aus Bucca tut, ist, seine Frau zu töten, weil er sie verdächtigt, ihn während seiner Gefangenschaft betrogen zu haben.
Kaum jemand hat so intensiv über den Platz der arabischen Identität und Kultur in der Moderne nachgedacht wie der französische Arabist und Soziologe Jacques Berque (1910-1995). Der französische Forscher, ein Kritiker seiner eigenen Regierung, schrieb vor fast 60 Jahren über das Thema, als die Araber dabei waren, in harten Kämpfen das Joch des Kolonialismus abzustreifen.
In Berques Analyse ging es für die Araber darum, nach einer langen Epoche der Fremdbestimmung "ihre Persönlichkeit wiederherzustellen". Mit all seiner Empathie "wollte" Berque, dass die Araber das schaffen. Er bewunderte "die Originalität" der arabischen Kultur, deren historische Wurzeln und Gegenwart er wohl wie kein zweiter Nichtaraber kannte.
Berque war zwar Optimist, aber er sah die Größe der Herausforderung- und die Gefahren des Scheiterns, die sowohl von innen als von außen lauerten. Die Bedingung des Erfolgs definierte er so: die Araber hätten keine andere Wahl, als sich in die alles dominierende neue Welt der Maschinen zu integrieren. Sie müssten sich so die industrielle Moderne "aneignen".
Er sah die harten Anforderungen an die "Wettbewerbsfähigkeit" einer Gesellschaft, die in einer sich rasch globalisierenden Welt bestehen will, einer Welt, in der neue Formen der Fremdherrschaft, vor allem der US-amerikanische Imperialismus, um sich griffen.
Verteidigung der letzten Souveränitätszone
Die arabischen Gesellschaften seien "allzu oft bloße Absatzmärkte und Rohstofflager für die Anderen", schrieb Berque 1960. "Wachstum" finde nur in den Bevölkerungszahlen statt. Das führe zu einer "beunruhigenden Masse von Arbeitslosen und Unterernährten". Die Bevölkerungsexplosion löse zudem eine massive Abwanderung der Dorfbewohner in die Städte aus, was kulturelle und soziale Entwurzelungen zur Folge habe.
Die Familie sei der einzige Bereich, in dem der arabische Mann weder durch Fremdherrschaft noch durch chaotisch verlaufende Modernisierungsprozesse in seiner Macht beschnitten worden sei. Deshalb achte er eifersüchtig darauf, diese letzte Souveränitätszone zu verteidigen.
Die Probleme, die Berque vor mehr als 50 Jahren bereits deutlich sah, sind nie gebändigt worden, sondern sie sind über die Jahre immer weiter eskaliert und kulminieren heute in einer Existenzkrise der arabischen Kultur und Identität.
Andere, sprich Iran, die USA, Russland, die Türkei und Israel markieren Macht und Einfluss in Territorien, die Araber seit ihrer nationalen und kulturellen Wiedergeburt vor 100 Jahren als arabisch betrachten. Millionen Araber sind heute abhängig von internationaler Nothilfe. Wen diese nicht erreicht, verhungert oder stirbt an Epidemien, wie neuerdings im Jemen an der Cholera. Militärisch sind Araber allein nicht in der Lage, die arabische Stadt Mossul aus der Hand der IS-Terrorbande zu befreien.
Die massenhafte Hinwendung zu islamistischen Bewegungen ist eine Reaktion sowohl auf die nicht gebändigten Probleme der Moderne als auch auf die neuen imperialen Übergriffe. Der zeitgenössische Islamismus hat die Probleme jedoch verschärft, statt sie zu lindern.
Schiitisch-sunnitisches Schisma
Historisch ist der Islam mit der arabischen Kultur und Sprache verwachsen. Heute erweist sich dieses Verwachsensein als Fluch. Die aktuelle Realität des Islams - und das gilt unabhängig von der feinen Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus - ist gekennzeichnet von der sektiererischen Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten.
Dieser innerislamische Religionskrieg wird den Islam als quasi überkonfessionelle Ökumene, wie wir sie kannten, aufreiben. Ein konfessioneller Riss trennt schiitische, mit dem Iran verbündete, von sunnitischen Arabern und treibt die arabische Identitätskrise auf die Spitze.
Dass Donald Trump in dieser Situation nach Riad reist, um einen gegen Iran gerichteten Pakt mit den sunnitischen Arabern zu schmieden, ist eine weltpolitische Karikatur. Als "beunruhigend", mit dem Wort von Jacques Berque, muss man wohl die Tatsache werten, dass "die Hoheiten" sich wie selbstverständlich für diese Karikatur hergeben.
Um es klar zu sagen: die Golfmonarchien werden die arabische Kultur nicht retten. Auch die Satellitensender nicht, die von ihren Territorien aus Programm machen. Was Al-Jazeera und Co. betrifft, so erstaunt, dass einige Akademiker im Westen deren Tun immer noch als "identitätsstiftend" für die Araber bezeichnen. Wer dies behauptet, dem ist entgangen, dass sich diese Sender längst in sprachvernichtendem Quatsch und Tratsch und vor allem in religiösem Sektierertum verloren haben.
"Wir, die wir in Kürze verschwunden sein werden"
Trotz Krieg und Massenmord gab es zahlenmäßig noch nie so viele Araber wie heute. Aber noch nie wussten sie so wenig, wer sie sind. "Wir, die wir in Kürze verschwunden sein werden", sagt der syrische Dichter Ra´id Wahsh, "haben von denen vor uns gelernt, keine Spuren zu hinterlassen. Denen nach uns werden wir beibringen, erst gar nicht zu kommen."
Das Camp Bucca lag genau da, wo die Araber einst auf die mesopotamische Zivilisation trafen.
Der Autor Shakir Nuri lässt in der verzweifelten Phantasie der Gefangenen uralte poetische Bilder aufsteigen - vom galoppierenden Hengst, auf dessen Rücken sie in die Freiheit reiten werden, und vom kreisenden Adler, der den Weg dorthin weist. Das ist der Traum.
Nüchtern stellt Nuri fest, dass alle, die einmal in Bucca gefangen waren, auf ewig das Zeugnis des Wahnsinns mit sich herumtragen werden. "Madjanin Bucca" sind die Verrückten von Bucca, die Folter und Erniedrigung durch die Besatzer in den Wahnsinn getrieben haben. Das ist die aktuelle Identitätsmarke. Es war einmal, dass die schöne Leila ihren dichtenden Verehrer "madjnun" machte, also in den Wahnsinn trieb. Welch ein Abstieg.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2017
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin "Panorama".