Begegnung mit einem Phantom
Driss Chraibi, Doyen und seit über 50 Jahren erklärtes "enfant terrible" der marokkanischen Literatur, vital, respektlos, mit einem leidenschaftlichen Hang zur Provokation, ist am Sonntag, dem 1. April, im Städtchen Crest, im Südosten Frankreichs, wo er seit 1986 mit seiner schottischen Frau und fünf seiner zehn Kinder lebte, einer Herzattacke erlegen.
Ganz Marokko und eine weltweite Internet-Gemeinde trauern um ihn.
"Er war unser aller Meister", erklärt Tahar Ben Jelloun gegenüber der marokkanischen Presseagentur MAP. "Engagiert und couragiert" habe Driss Chraibi "mehreren Generationen maghrebinischer Autoren den Weg bereitet" und der marokkanischen Gesellschaft gekonnter als irgendwer sonst den Spiegel vorgehalten.
Revolte als Markenzeichen
Der studierte Chemiker, Sohn eines wohlhabenden Teehändlers aus El-Jadida, Absolvent des französischen Elite-Lycée Lyautey in Casablanca, betrat die literarische Bühne 1954 mit einem Knalleffekt – von Paris aus, wo er seit 1945 lebte:
Le Passé Simple, die wütende Abrechnung eines Sohnes mit Papas Marokko und dessen alten Zöpfen, schlug in Marokko ein wie eine Bombe, mitten hinein in das Ringen des französischen Protektorats (1912-1956) um die Unabhängigkeit. Chraibi gilt ab sofort als Nestbeschmutzer, als Landesverräter.
Erst 1967 wurde er rehabilitiert, durch eine Sondernummer der Avantgarde-Zeitschrift "Souffles", doch der Roman selbst, ein Meilenstein der modernen Maghrebliteratur, blieb bis 1977 verboten.
Experimentator und Pionier
Von der Chemie ist Driss Chraibi – der nach dem Examen umsattelte auf Literatur und Journalismus - und nebenbei dreißig Jahre lang für Radio France Culture Hörspiele schrieb – bis zuletzt die Lust am Experimentieren geblieben.
Er deklinierte die Thematik des Kulturkonflikts, die seine eigene ist, die Auseinandersetzung zwischen Orient und Okzident, Tradition und Moderne, in von Buch zu Buch wechselnden Konstellationen durch:
1954, in Passé Simple, führte er das Thema des Generationenkonflikts in die noch junge Literatur des Maghreb ein, 1955 lanciert er mit Les Boucs (dt. Sündenböcke), der schonungslosen Schilderung der miserablen Lebensumstände maghrebinischer Gastarbeiter im französischen "Mutterland", das Genre des Migrantenromans.
1972 wurde er mit La Civilisation, ma mère! (dt. Die Zivilisation, Mutter !) zum Vorreiter eines Feminismus à la marocaine; und 1967 und 1975 wagte er sich, mit Un ami viendra vous voir bzw. Mort au Canada, an Beziehungsromane, die – erstmals überhaupt, und bis heute selten genug in der maghrebinischen Literaturgeschichte – den Maghreb als Bezugsrahmen weit hinter sich lassen.
Nicht nur rebellische Töne, auch spirituelle waren von Chraibi zu hören. Den Kosmopoliten und Weltenbummler, der seiner Heimat innerlich eng verbunden blieb, trieb vor allem eine Frage um: die nach dem Lauf des Schicksals von Menschen und Völkern – und nach der wahren Botschaft des Islam.
In zwei historisch-mythologisierenden Romanen tauchte er tief ein ins marokkanische Mittelalter, erzählte von der Begegnung zwischen arabo-islamischer und Berberkultur (La mère du printemps/ L’Oum er-Bia, 1982), vom Goldenen – andalusischen – Zeitalter (Naissance à l’aube, 1986) und, neun Jahre später, sogar vom Leben des Propheten vor der Offenbarung des Korans (L’Homme du livre, 1995).
Maghrebinische Krimi-Satire
Last not least: die Inspektor-Ali-Serie, mit der Chraibi das Genre des postkolonialen, mit westlichen Orientklischees spielenden Krimis etabliert. Dem Leser bereits durch Ermittlungen im Landesinnern (1981, Une enquête au pays) bekannt, entwickelt sich Ali, ein urmarokkanischer, höchst sinnenfroher und politisch zutiefst unkorrekter Bruder von Pepe Carvalho, in den 1990ern zu Chraibis Lieblingsfigur, die an den geostrategischen Brennpunkten des Globus recherchiert:
in England (Inspektor Ali im Trinity College, 1996), den USA (L’Inspecteur Ali et la CIA, 1997) und sogar in Afghanistan, in L’Homme qui venait du passé (2004).
"Eine hinreißende Komödie über die islamische Welt der Gegenwart und diesen Pseudo-Krieg, den sie sich da mit dem Westen liefert", so lobte Chraibi sich selbst und seinen definitiv letzten Roman.
Humor als Waffe
Mit Wonne hat Driss Chraibi zeitlebens seine Leser gefoppt, mit seinem sehr speziellen Humor, der die Grenze zwischen Ernst und Scherz verwischt. Hat Interpreten auf falsche Fährten gelockt, die seinen 17 Romanen gerne größere (autobiographische) Glaubwürdigkeit zubilligen als seinen beiden Memoirenbänden (Vu, lu, entendu, 1998; Le Monde à coté, 2001).
Der Autor, der sich selbst – unter Verweis auf sein Geburtsdatum, den 15. Juli 1926, eine echte Fiktion – schon immer gern als "écrivain fantôme" bezeichnet hat, als "Phantom-Schriftsteller", hat sich dem Zugriff der ihn sezierenden "Insektuellen", um mit Inspektor Ali zu sprechen, nunmehr endgültig entzogen.
Driss Chraibi wurde am 6. April unter großer Anteilnahme in Casablanca auf dem Cimetière des Chouhada zur letzten Ruhe geleitet, am selben Tag, an dem er eigentlich zu einer Lesung in Rabat erwartet wurde ...
Doch vieles spricht dafür, dass uns das "Phantom" noch lange nicht zur Ruhe kommen lässt.
Regina Keil-Sagawe
© Qantara.de 2007
Auf Deutsch liegen von Driss Chraibi vor:
Inspektor Ali im Trinity College (Roman), Unionsverlag. Aus dem Französischen von Regina Keil. 160 Seiten, EUR 7,90
Die Zivilisation, Mutter! (Roman), Unionsverlag. Aus dem Französischen von Helgard Rost. 144 Seiten, EUR 8,90
Sündenböcke (Roman), Verlag Donata Kinzelbach. Aus dem Französischen von Stephan Egghart. 164 S., Euro 15.50
Ermittlungen im Landesinnern (Roman), Lenos Verlag. Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig. 280 S., 9,95 Euro
Qantara.de
Buchtipp: Mohammed Khaïr-Eddine
Sein letzter Kampf. Eine marokkanische Legende
Unter dem Titel "Sein letzter Kampf" ist der letzte Roman des marokkanischen Schriftstellers Mohammed Khaïr-Eddine auf Deutsch erschienen. Die Stammes-Saga aus dem Anti-Atlas kreist um die legendäre Figur des Agoun’chich, der als "lonesome rider" durch die zerklüftete Bergwelt Südmarokkos streift. Von Regina Keil-Sagawe
Donata Kinzelbach:
"Maghrebiner sind immer im Exil"
Seit fast zwanzig Jahren publiziert Donata Kinzelbach Literatur maghrebinischer Autorinnen und Autoren. Ester Kraus führte für die Zeitschrift 'Zeichen & Wunder' ein Interview mit der Herausgeberin.
Dossier: Deutsch-arabischer Literaturaustausch
Die Literatur ist immer ein zentrales Medium des Kulturdialogs. Dabei sind es oft Aktivitäten, die im Kleinen, ja Verborgenen stattfinden: Übersetzer und Verleger, die sich am Rande des Existenzminimums um die geliebte fremde Kultur verdient machen. Wir präsentieren deutsche und arabische Initiativen.
www