Zwischen Assad und Erdogan

Die Autonome Verwaltung Nordostsyrien kontrolliert ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, wird aber von niemandem anerkannt. Angriffe durch die Türkei, eine drohende Übernahme durch das Assad-Regime, der Umgang mit Zehntausenden IS-Anhängern und die internationale Isolation erschweren den Alltag der Menschen. Aus Kamischli berichtet Kristin Helberg

Von Kristin Helberg

Der Sabaa Bahrat-Platz in Qamishli. In der Mitte eine Statue von Syriens Ex-Präsident Hafiz al-Assad, am Rande markieren Fotos von Sohn Bashar den Checkpoint, der in ein vom syrischen Regime kontrolliertes Viertel führt. Gelbe Taxis drängen Richtung Innenstadt. Etwa 200 Meter weiter steht am nächsten Kreisverkehr – dem Märtyrerplatz – ein Denkmal für die gefallenen Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten. Und auf einem Wandplakat sieht man PKK-Gründer Abdullah Öcalan, wie er in einem Buch liest. Willkommen im Nordosten von Syrien.

Jomart arbeitet für die Nichtregierungsorganisation PÊL – Civil Waves. Seinen echten Namen möchte er nicht nennen, nicht aus politischen, sondern aus persönlichen Gründen. Er lebt in Qamishli, der kurdischsten Stadt Syriens direkt an der Grenze zur Türkei. Hier regiert die Autonome Verwaltung Nordostsyrien, besser bekannt als kurdische Selbstverwaltung. „Die kurdischen Gebiete sind die ruhigsten in Syrien, weil die lokale Bevölkerung und die Autonome Verwaltung diese Ruhe bewusst bewahren“, sagt Jomart.

Die Anwesenheit des syrischen Regimes sei für die Verwaltung von Vorteil. Wenn das Assad-Regime hier nicht vertreten wäre, würde der Flughafen zum Beispiel nicht funktionieren. „Denn keiner arbeitet mit der Autonomen Verwaltung zusammen, keiner erkennt sie offiziell an.“ Die Autonome Verwaltung hätte verstanden, dass diese Form von Regime-Präsenz ihr nutzt, und die Menschen würden das ähnlich sehen. „ Jeder lässt den anderen in Ruhe – wir bleiben auf Abstand, damit wir nicht das gleiche erleben wie Homs, Aleppo und anderen Orte,“ meint er.

Kurden zählen zu den wenigen Gewinnern 

In gewisser Weise zählen die Kurden zu den wenigen Gewinnern des Syrien-Konfliktes. 2011, als vielerorts in Syrien Proteste stattfanden, zog sich das Regime von Machthaber Bashar al-Assad aus dem Nordosten zurück, um den Aufstand im Rest des Landes niederzuschlagen. Damaskus überließ das Gebiet der kurdischen PYD, der Partei der Demokratischen Union, die ideologisch eng mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK verbunden ist.

 Überblick über die heutigen Machtverhältnisse in ganz Syrien (Quelle: Congressional Research Service) Foto: CRS
Überblick über die heutigen Machtverhältnisse in ganz Syrien (Quelle: Congressional Research Service)

Mit Hilfe ihrer Volksverteidigungseinheiten übernahm die PYD zunächst die Kontrolle über die kurdischen Siedlungsgebiete im Norden, die als Rojava bezeichnet werden. Durch den Kampf gegen den IS, den so genannten Islamischen Staat, wurde die autonome Region immer größer. 2015 wurden mit amerikanischer Unterstützung die Syrischen Demokratischen Kräfte gegründet, ein Militärbündnis, in dem neben den kurdischen Volksverteidigungseinheiten auch arabische Bataillone kämpfen. Die Gebiete, aus denen der IS vertrieben wurde, fielen an die Autonome Verwaltung – darunter auch überwiegend arabische Städte wie Raqqa, Tabqa und Manbij. Seit 2018 kontrolliert sie den gesamten Nordosten Syriens, ein Drittel des Staatsgebietes, und nennt sich Autonome Verwaltung Nordostsyrien. Wegen ihrer Verbindung zur PKK ist sie international isoliert – schließlich gilt diese nicht nur in der Türkei, sondern auch in den USA und Europa als Terrororganisation.

„Es gibt viel Propaganda, dass das hier ein kurdisches Projekt ist, das Syrien spalten und aufteilen will. Das Regime verbreitet diese Propaganda, genauso wie die Türkei, die Opposition in Istanbul, die Nationale Koalition und die Muslimbrüder,“ sagt Abdelkarim Omar, der die Autonome Verwaltung als eine Art Außenminister nach außen vertritt. Er ist die PKK-Diskussionen leid. Für ihn entspricht diese Sichtweise nicht der Wahrheit.

„Dieses Projekt ist ein syrisches Projekt. Von Anfang an haben wir uns von diesem sektiererischen Konflikt distanziert“, meint er, „denn wir unterstützen den Willen des Volkes und setzen uns für gute Beziehungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein. Wir wollen ein neues, demokratisches und dezentrales Syrien aufbauen.“

Wandplakat am Märtyrerplatz in Qamishli mit der Abbildung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, wie er liest. (Foto: Kristin Helberg)
Wandplakat am Märtyrerplatz in Qamishli mit der Abbildung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, wie er liest. In Behörden, an Ortseingängen und auf öffentlichen Plätzen finden sich Fotos von PKK-Gründer Öcalan, der in Nordostsyrien als ideologischer Übervater verehrt wird.

Einbindung aller Ethnien, Religionen und Konfessionen

Die Verständigung zwischen verschiedenen Ethnien, Religionen und Konfessionen ist in Nordostsyrien wichtig. Denn hier leben nicht nur Araber und Kurden, sondern auch Assyrer und Chaldäer, Armenier, Tscherkessen, Tschetschenen und Jesiden. Sie alle sollen gleichberechtigt in einer basisdemokratischen Selbstverwaltung mitwirken – so sieht es der „demokratische Konföderalismus“ vor, auf den sich die PYD beruft. PKK-Gründer Abdullah Öcalan entwickelte die Idee in türkischer Haft – seit 2005 wirbt er nicht mehr für einen kurdischen Nationalstaat, sondern für eine Föderation autonomer Gebiete. Dadurch können die Kurden nach Selbstbestimmung streben, ohne bestehende Staatsgrenzen in Frage zu stellen.

In Nordostsyrien läuft der Praxistest. Taha Khalil ist vorsichtig optimistisch. Der 58-jährige Schriftsteller lebte acht Jahre lang in der Schweiz und ist heute einer der Direktoren des Rojava Zentrums für Strategische Studien – einer Denkfabrik, die sich mit gesellschaftlichen und politischen Fragen in der Region befasst.

„In der Verwaltung sind Führungsposten immer doppelt besetzt mit einer Frau und einem Mann. Es gibt Araber, Assyrer und andere Volksgruppen in der Verwaltung, und zwar in verantwortlichen Positionen,“ sagt Khalil. „ Die Syrischen Demokratischen Kräfte bestehen zu 70 Prozent aus Arabern und Assyrern, aber alle sagen, das seien kurdische Kräfte.“ Es gebe aber massive Propaganda und eine schreckliche Medienkampagne gegen die Verwaltung von Seiten der Türkei und des Kurdischen Nationalrats, von vielen Kurden, die politisch nicht hinter der Verwaltung stehen.

Die kurdischen Siedlungsgebiete, die als Rojava bezeichnet werden. (Karte: Wikipedia)
Karte: Die kurdischen Siedlungsgebiete, die als Rojava bezeichnet werden.

Die Vorwürfe des Intellektuellen richten sich gegen die Mitglieder des Kurdischen Nationalrats. In dem Bündnis sind seit 2011 mehr als ein Dutzend kurdischer Parteien vertreten. Die meisten sind eher unbedeutend, aber als Zusammenschluss bildet der Kurdische Nationalrat ein Gegengewicht zur herrschenden PYD. Hauptstreitpunkt zwischen beiden Seiten ist die Rolle der Türkei. Der Kurdische Nationalrat hat sich der syrischen Opposition in Istanbul angeschlossen und steht dadurch unter dem Einfluss der türkischen Regierung.

Erdogans Rolle in Nordsyrien

Diese Nähe zu Präsident Erdogan macht sie aus Sicht der PYD zu Verrätern – schließlich hat die Türkei Nordsyrien schon dreimal angegriffen und dabei Zehntausende Kurden vertrieben. Suliman Osso ist Generalsekretär der Yekiti Partei und Führungsmitglied im Kurdischen Nationalrat. Seit Jahrzehnten setzt sich der 62-Jährige für die Rechte der Kurden ein, mehrfach wurde er verhaftet – vom Assad-Regime und von den Polizeikräften der PYD.

Angesichts von 700 Kilometern gemeinsamer Grenze wirbt der Parteiveteran für Verständigung mit der Türkei. „Es ist nicht in unserem Interesse, in Feindschaft mit der Türkei zu leben,“ sagt er. „Obwohl ein Teil Kurdistans in der Türkei liegt und dort 20 Millionen Kurden leben, denken wir, dass die Kurdenfrage der Türkei nur die Kurden in der Türkei etwas angeht und nicht die Kurden in Syrien. Wir können ein Land wie die Türkei nicht militärisch herausfordern.“ 

Suliman Osso ist Generalsekretär der Yekiti Partei und Führungsmitglied im Kurdischen Nationalrat. (Foto: Kristin Helberg)
Der Generalsekretär der Yekiti Partei ist Führungsmitglied im Kurdischen Nationalrat und wirbt für eine Verständigung mit der Türkei. (Foto: Kristin Helberg)

Die Präsenz der PKK habe der Türkei den Vorwand für ihre Einmischung in Nordostsyrien gegeben, meint Osso. „In jedem Grenzort hingen Öcalan-Fotos, das empfinden die Türken als Provokation. Wir wollen etwas für die Kurden in Syrien aufbauen und uns nicht in den Konflikt zwischen der Türkei und der PKK einmischen.“

Seit 2016 hat die Türkei drei große Gebiete in Nordsyrien erobert und dort Protektorate errichtet. Angesichts der ungelösten Kurdenfrage im eigenen Land möchte Präsident Erdogan eine kurdische Autonomie im benachbarten Syrien auf jeden Fall verhindern – vor allem, wenn sie unter dem Einfluss der PYD steht. Denn für Ankara sind PYD und PKK dasselbe: Terrororganisationen, die den türkischen Staat bedrohen.

Ehemalige IS-Anführer verfolgen jetzt Erdogans Agenda

Die eroberten Gebiete jenseits der Grenze sichert die Türkei mit Hilfe syrischer Milizionäre. Diese nennen sich Syrische Nationale Armee und bestehen aus Extremisten, die laut UN-Menschenrechtsrat plündern, foltern, vergewaltigen und kurdischen Besitz beschlagnahmen. Seit Jahren unterstützt die Türkei syrische Islamisten-Gruppen – früher bekämpften diese das Assad-Regime, heute vor allem ihre kurdischen Landsleute. Auch ehemalige IS-Kämpfer sollen sich der Syrischen Nationalen Armee angeschlossen haben. Darauf deuten Aussagen inhaftierter IS-Mitglieder, beschlagnahmte Dokumente und Dutzende Fotos hin, die die Autonome Verwaltung sowie kurdische und internationale Medien ausgewertet haben. Außenamtsvertreter Abdelkarim Omar spricht von einer direkten Verbindung zwischen türkischen Sicherheitskräften und dem IS.

„Alle entkommenen Anführer des IS sind jetzt bei der Syrischen Nationalen Armee, dafür haben wir Beweise. Erdogan stattet sie aus und benutzt sie für seine eigene Agenda. Er schickt sie als Söldner nach Libyen und Aserbaidschan,“ sagt er. Beide Gefahren – der dschihadistische Terror und die Türkei – würden zusammenhängen und man könne sie nicht trennen. „Außerdem bekämpft uns die Türkei wirtschaftlich, indem sie uns an der Pumpstation Allouk das Trinkwasser abdreht.“ Alle Gebiete, die früher vom IS beherrscht wurden – Manbij, Tabqa, Raqqa, Deir al-Zor – bräuchten für die Landwirtschaft das Euphrat-Wasser, auch zur Energiegewinnung. Deshalb sei es ein großes Problem, wenn die Türkei das Euphrat-Wasser zurückhält – für die Landwirtschaft und die Stromerzeugung. „Alles, was Erdogan macht, dient der Destabilisierung der Region, und das ist für den IS eine Gelegenheit, sich neu zu formieren,“ so der Außenbeauftragte Abdelkarim Omar.

Zehntausende Kämpfer und Anhänger des IS sitzen bis heute in kurdischen Gefängnissen und Lagern, müssen bewacht, versorgt, verurteilt oder resozialisiert werden. Unter ihnen sind 11.000 Frauen und Kinder aus 50 Staaten, sagt Omar. Die Autonome Verwaltung könne sich nicht alleine kümmern, so der Außenbeauftragte, schließlich sei der IS kein lokales, sondern ein internationales Problem. Jedes Land sollte seine eigenen Staatsbürger zurückholen oder zumindest für deren Unterbringung bezahlen, fordert der Diplomat. Nur zögerlich hätten einzelne Regierungen bisher Frauen und Kinder ausgeflogen, darunter auch Deutschland. Der Kampf gegen den IS hat den Syrischen Demokratischen Kräften international Respekt verschafft und der Autonomen Verwaltung Sympathien in der Bevölkerung. Taha Khalil vom Rojava Zentrum für Strategische Studien verlor seine Tochter beim schwersten Anschlag des IS in Qamishli. Im Juli 2016 jagte die Terrororganisation ein Verwaltungsgebäude in die Luft, in dem Khalils Tochter gearbeitet hat. Sie starb mit mehr als 50 anderen Menschen.

Mehrsprachig beschrifteter Bus in Kamischli in Nordostsyrien. (Foto: Kristin Helberg)
Mehrsprachig beschrifteter Bus in Kamischli im Nordostsyrien. (Foto: Kristin Helberg)

Bürokratischer Filz wie nach 50 Jahren Herrschaft

„Die Verwaltung beschützt die Region, ihre Bewohner und ihren Besitz, sie verhindert, dass das Regime oder der IS zurückkehren, das ist gut,“ meint Khalil. Aber es entwickele sich jetzt  eine Bürokratie, „als ob sie schon 50 Jahre regiert und nicht erst sieben.“  Es gebe Nachlässigkeit und Korruption, Bestechung und Betrug bei Gericht. Ein Dokument müsse von 20 Stellen unterschrieben werden. „Wir brauchen Fachleute, die sich mit öffentlicher Verwaltung auskennen, die etwas von Wirtschaft verstehen, echte Juristen. Denn wir haben es nicht mit Heiligen zu tun, sondern mit einem Volk, das sein ganzes Leben in einer Diktatur gelebt hat.“

Seit fast 60 Jahren vergifte der arabische Nationalismus der Baathpartei das syrische Volk, so der Analyst. Dagegen helfe kein kurdischer Nationalismus, sondern nur echter Pluralismus. Genau daran arbeitet PÊL, die zivilgesellschaftliche Organisation von Jomart. Sie organisiert Dialogforen mit bis zu 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, bei denen vor allem junge Leute mit verschiedenen Gesellschaftsvertretern ins Gespräch kommen.

Religiöse Würdenträger sitzen neben Künstlern und Intellektuellen, Stammesführer neben Politikern und Verwaltungschefs. Es gehe darum, Probleme offen anzusprechen und andere Meinungen zu respektieren, erklärt Jomart. „Wir versuchen bei Veranstaltungen und Workshops die Vertreter gegnerischer oder verfeindeter Organisationen an einen Tisch zu bringen. Wenn sie dann eine Tasse Tee zusammen trinken, ist das schon ein Erfolg. Und die Autonome Verwaltung ermutigt dieses Miteinander.“

Bildungssystem: Kurdische oder syrische Schulen?

Über manch heikle Themen würde die Verwaltung jedoch lieber nicht öffentlich diskutieren, weil sie Widerspruch fürchtet, sagt Jomart. Über das Bildungssystem zum Beispiel, eines der drängendsten Probleme in Nordostsyrien. Die Autonome Verwaltung hat die Schulen des syrischen Regimes fast alle übernommen und unterrichtet die kurdischen Kinder dort erstmals in ihrer Muttersprache.

Die Abschlüsse dieser Schulen sind allerdings nirgendwo anerkannt. Deswegen schicken viele kurdische Familien ihre Kinder weiterhin in die wenigen, völlig überfüllten Schulen, die dem Erziehungsministerium in Damaskus unterstehen. Dort lernen sie auf Arabisch und bekommen einen Abschluss, mit dem sie überall in Syrien studieren oder auch ins Ausland gehen können.

Der Märtyrerplatz im Zentrum von Qamishli mit einem Denkmal für die im Kampf gegen den IS gefallenen Mitglieder der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). (Foto: Kristin Helberg)
Der Märtyrerplatz im Zentrum von Qamishli mit einem Denkmal für die im Kampf gegen den IS gefallenen Mitglieder der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG). (Foto: Kristin Helberg)





Die Verwaltung aber möchte Kurdisch als Bildungssprache etablieren, sie hat viel in die Weiterbildung ihrer Lehrerinnen und Lehrer investiert, hat Institute und Universitäten eröffnet. Als PÊL zum offenen Dialog über das Bildungssystem einlud, verweigerten die Behörden zunächst die Genehmigung, erzählt Jomart. PÊL braucht für jede Aktivität eine Genehmigung, doch manchmal passe die Aktivität der Autonomen Verwaltung nicht.



„Sie haben dieses typische Bild von uns zivilgesellschaftlichen Organisationen – sie denken, wir wären gegen sie und wollten ihnen schaden,“ erzählt er. „Dann haben wir sie ein paar Mal besucht und am Ende überzeugt. Die Veranstaltung lief so gut, dass der Minister für Bildung und Erziehung hinterher sehr zufrieden war und meinte, wir sollten mehr solcher Treffen organisieren.“

Im Vergleich zu den ersten Jahren sei die Autonome Verwaltung kritikfähiger geworden, sagt der Aktivist. Früher wurden die Büros anderer Parteien geschlossen oder angegriffen, ihre politischen Vertreter bedroht und verhaftet. Heute bemühe sich die Verwaltung um ein besseres Image, erklärt Jomart – deshalb lasse sie den Medien, dem Kurdischen Nationalrat und der Zivilgesellschaft mehr Raum. Etwa 200 Nichtregierungsorganisationen seien in Nordostsyrien registriert, sollte das Assad-Regime irgendwann zurückkehren, müssten die meisten ihrer Vertreter fliehen, so Jomart.

Keine Kompromisse von Assad

Mehrfach gab es Versuche, sich mit den Machthabern in Damaskus zu verständigen. Doch Assad hat keinen Grund, Kompromisse zu suchen. Russland und Iran sichern seine Herrschaft, die UN kümmern sich um die humanitäre Versorgung seiner Bevölkerung und die arabische Nachbarschaft behandelt ihn wieder als Staatschef – aller Kriegsverbrechen zum Trotz. Von Föderalismus und Autonomie wolle das syrische Regime deshalb nichts wissen, sagt Taha Khalil vom Rojava Zentrum für Strategische Studien. „Es gibt Gespräche zwischen dem Regime und der Verwaltung, aber nur auf Geheimdienstebene. Bis heute betrachtet Assad die Kurdenfrage nicht als politisches Thema, sondern nur unter militärischen und Sicherheitsaspekten. Das ist die Mentalität dieses Regimes.“

Ohne eine Einigung innerhalb Syriens könne die Autonome Verwaltung nicht nach internationalem Recht anerkannt werden, sagt auch ihr Außenbeauftragter Abdelkarim Omar. Praktisch würden zwar viele Staaten mit der Verwaltung zusammenarbeiten, betont der Diplomat, aber die Region brauche dringend mehr Investitionen in die Infrastruktur und Erdölindustrie.

Das wenige Erdöl, das Syrien hat, liegt im Nordosten – es ist die Haupteinnahmequelle der Autonomen Verwaltung. Da es jedoch keine modernen Raffinerien gibt, wird das Rohöl auf primitive Weise zu Diesel und Benzin verarbeitet, was zu einer massiven Verschmutzung von Luft und Boden führt. Die internationale Anti-IS-Koalition habe bereits neue Raffinerien versprochen, so Omar, die Signale aus den USA seien positiv.

Der Außenbeauftragte ist davon überzeugt, dass die neue amerikanische Regierung neben dem Kampf gegen den IS auch die Entwicklung und den Fortschritt im Nordosten Syriens fördern will. „Sie arbeiten jetzt direkt mit der Autonomen Verwaltung zusammen. Auch Europa hat sich geöffnet – unsere Treffen finden jetzt überall auf der Ebene des Ministers oder Syrienbeauftragten statt.“ Aber es gebe eine wichtige Einschränkung: „Nur in Deutschland nicht. Niemand von unserer Autonomen Verwaltung wird offiziell im Auswärtigen Amt empfangen. Alle betonen, dass es keine Stabilität in Syrien geben kann ohne die Autonome Verwaltung und ohne eine Einbeziehung der Kurden in politische Verhandlungen und den Verfassungsprozess. Es kann nicht sein, dass das türkische Veto das verhindert.“

Die Hoffnungen in Qamishli ruhen jetzt auch auf der neuen Bundesregierung. Aus Rücksicht auf den türkischen Präsidenten hat sich Deutschland bislang nur in den arabisch geprägten ehemaligen IS-Regionen engagiert, nicht aber in den kurdischen Gebieten nahe der Grenze. Zudem wird die staatliche Förderung ausschließlich über lokale Partnerorganisationen wie PÊL abgewickelt und nicht in direktem Kontakt mit der Autonomen Verwaltung.

Außenministerin Annalena Baerbock könnte das ändern, meinen Beobachter. Sie könnte Ankara gegenüber selbstbewusster auftreten und deutsches Entwicklungsgeld für Nordostsyrien weniger beschränken.

Kristin Helberg

© Qantara.de 2022

Dieser Beitrag ist zuerst als DLF-Hintergrund am 9.12.2021 erschienen. 

 

 

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