Tage des Zorns

Mit der Rückkehr El-Baradeis, den massiven Protesten nach dem Freitagsgebet und der Einschränkung des Internetzugangs stehen die Zeichen in Ägypten auf Sturm. Die Zeitung Al-Masry Al-Youm erläutert die Tragweite der Proteste.

Die Proteste, die seit dem 25. Januar in Ägypten ihren Anfang nahmen, könnten sich als historischer Wendepunkt für die kleine und schwache ägyptische Opposition entpuppen. Zehntausende gingen am "Tag des Zorns" in den großen ägyptischen Städten auf die Straße, viele Demonstrationen dauerten sogar während der Nacht an.

Die Beteiligung war für ägyptische Verhältnisse außerordentlich hoch, der Vorgang in Mubaraks 31jähriger Regierungszeit einmalig. Die jüngsten Erhebungen in Tunesien haben bei vielen Ägyptern die Hoffnung geweckt, dass öffentlicher Widerstand Wirkung zeigt und ihre Stimmen gehört werden müssen.

In Kairo haben sich Demonstranten an mehreren Stellen getroffen, um durch verschiedene Stadtteile zu ziehen und mehr Unterstützer um sich zu scharen und zugleich die Sperren der Polizei zu umgehen, bevor sie auf Kairos Tahrir-Platz strömten und zu einer Menge von geschätzt 15.000 Menschen anwuchsen.

An dieser größten Protestkundgebung des Landes beteiligten sich bekannte Oppositionspolitiker oder berühmte Filmstars und Schriftsteller ebenso wie einfache Arbeiter aus dem Viertel und sogar Familien mit Kindern.

Jung, friedlich, nicht-sektiererisch

Aber mehr als alle anderen Gruppen dominierten die mutigen und enthusiastischen Jugendlichen die Kundgebung. Dies war ihr Protest. Internet-gebildet, überwiegend aus der Mittelschicht und wütend auf ein Regime, das ihnen viele Sorgen beschert, aber wenig, nach dem sie streben können.

Diese große Gruppe der jungen Bevölkerung Ägyptens kam, um den Wandel zu fordern. Und das taten sie in einer plötzlichen Aufwallung, die die Erwartungen vieler Leute übertroffen hat.

Im Gegensatz zu den Schilderungen westlicher Medien und vieler lokaler Analysten einer arabischen politischen Opposition, die von einem islamistischen Diskurs bestimmt wird, der auf Gewalt und Unterdrückung aus ist, waren die meisten Demonstranten bemerkenswert friedlich und ihre Forderungen nicht sektiererisch.

Am Tahrir-Platz in Kairo war kaum ein islamistischer Slogan zu hören, keine Plakate mit religiösen Symbolen waren zu sehen und die einzigen Flugblätter, die verteilt wurden, verkündeten die Forderung der Demonstranten nach der Bildung einer neuen Regierung. Kurz nach Mitternacht, als die Sicherheitsleute die Demonstranten mit Gewalt vom Hauptplatz der Stadt vertrieben, schallte ein gemeinsamer Gesang durch die Straßen: "Das Volk will das Regime absetzen!"

Physischer und medialer Zusammenbruch

Die Antwort des Regimes war unbeugsam, aber hinterhältig. Was mit relativer Nachsicht auf Seiten der Sicherheitskräfte begann, endete mit einem mitternächtlichen Regen von Gummigeschossen und Tränengas gegen die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz, der dutzende Verletzte und noch mehr Verhaftete zur Folge hatte.

​​Inzwischen hat der ägyptische Sicherheitsapparat eine Kommunikationssperre über den Protest verhängt, sowohl Twitter und UStream als auch die drei ägyptischen Mobilfunknetze im Gebiet der Innenstadt blockiert.

Die Webseite der oppositionellen Online-Zeitung Al-Dostour war über den Tag immer wieder mal nicht erreichbar; die staatlichen Zeitungen spielten Ausmaß und Bedeutung des Geschehens herunter, als ob nichts Außergewöhnliches geschehen sei.

Vielleicht ist diese Taktik Ausdruck der Hoffnung der Obrigkeit, dass die Demonstranten und ihre Klagen bald verschwinden werden. Vielleicht enthüllt es aber auch, wie weit entfernt das Regime von den politischen Realitäten an der Basis ist, die das Land an den Rande der Implosion zu treiben drohen.

Dass die Menschen in der gesamten Region – im Jemen, in Algerien und Tunesien – ihre Stimmen gegen ihre Herrscher erheben, sollte der ägyptischen Regierung Sorgen über das bereiten, was die Zukunft noch bringen mag.

Quo vadis, Ägypten?

Also, was nun? Werden die aufkeimenden Proteste von Ägyptens Jugend eskalieren? Werden sie sich zu einer organisierten Bewegung auswachsen? Und wenn, wird sie fähig sein, andere soziale Gruppen einzubinden oder wenigstens starke Brücken zu anderen Aktivisten aufzubauen, speziell in der Arbeitswelt? Und am wichtigsten: Wird das Regime Mubarak Zugeständnisse an die Jugend machen? Es gibt noch keine klaren Antworten, die Zeit wird es zeigen.

Was wir allerdings jetzt schon wissen, ist, dass die Protestwelle vom 25. Januar Ägyptens offizielle Oppositionsparteien – inklusive Tagammu, Wafd und Muslimbrüder – in die Defensive gedrängt haben, weil all diese Gruppen zwischen zögerlicher Unterstützung und gänzlicher Verweigerung der Teilnahme an den Protesten schwanken.

Die "Tage des Zorns" könnte sich als der notwendige Katalysator erweisen, den es braucht, um diese Gruppen innerlich zu spalten und den Grad der Politisierung ihrer jüngeren Mitglieder zu heben. Das wäre kein geringes Vermächtnis.

Das "Tunesien-Fieber" breitet sich rasant in der arabischen Welt aus. Viele meinten, dass eine Erhebung im Stile Tunesiens in Ägypten wegen der fundamentalen Unterschiede in der Zusammensetzung des Regimes und der Gesellschaften in beiden Ländern unwahrscheinlich sei.

Aber die Ägypter haben ihre politische Vielseitigkeit und ihre beeindruckende Bereitschaft unter Beweis gestellt, sich den ihnen von einem starken Sicherheitsapparat auferlegten Einschränkungen zu widersetzen.

Vielleicht ist das Tunesienmodell keine Bedrohung, die das Regime Mubarak in absehbarer Zeit zu Fall bringen kann. Aber es hat das Potenzial, die ägyptische Opposition in eine größere, spontanere und umfassendere Bewegung zu verwandeln, die in der Zukunft zu einer ernsthaften politischen Herausforderung für das Regime werden kann.

© Al-Masry Al-Youm 2011

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Kleefisch

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Qantara.de

Proteste gegen die Regierung Mubarak in Ägypten
Genug ist genug!
Ägypten erlebt eine Welle des Protests, die für die Republik am Nil neu ist: Während Mubaraks 30-jähriger autoritärer Herrschaft hat das Land noch nie solche massiven Unruhen erlebt. Die Botschaft der Ägypter ist klar: "Kefaya!" – "Es ist genug!" Aus Kairo informiert Amira El Ahl.

Der Westen und das Mubarak-Regime
Lang lebe der Pharao!
Das autoritäre Mubarak-Regime gilt als verlässlicher Partner des Westens in einer instabilen Weltregion. Doch dieses Bild hat durch die offensichtlichen Wahlmanipulationen, die ein Ausdruck von Schwäche sind, tiefe Risse bekommen. Daher müssen Europa und die USA ihre Politik gegenüber dem Mubarak-Regime kritisch überprüfen, meint der Ägypten-Experte Thomas Demmelhuber.

Menschenrechtssituation in Ägypten
Notstand als Normalzustand
Erstmals haben die USA auf einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrates in Genf ihren langjährigen Verbündeten Ägypten aufgefordert, das seit 1981 in Kraft befindliche Notstandsrecht endlich aufzuheben und die Menschenrechtslage im Land am Nil zu verbessern. Von Andreas Zumach