Afghanistan – die Angst der Hazara
Seit Tagen versteckt sich Mah Bigum* mit ihren Verwandten in Kabul. Die Familie ist völlig verängstigt. Draußen auf den Straßen patrouillieren die Taliban. Sie durchsuchen die Häuser. Die 19-jährige Mah Bigum lenkt sich mit ihrem Lieblingsfilm ab: "V wie Vendetta". Er handelt von einem einsamen Freiheitskämpfer, der ein totalitäres Regime stürzen will und eine junge Frau aus dessen Fängen rettet.
Doch der Spielfilm tröstet sie nicht und gibt ihr auch keine Hoffnung - im Gegenteil: "Er deprimiert mich." Denn er erinnere sie schmerzhaft daran, wie anders ihr Leben war, als sie ihn zum letzten Mal sah: Sie stand kurz vor ihrem Abitur, und wollte an der Universität Fotografie studieren.
Systematische Verfolgung durch die Taliban
Jetzt ist alles anders. Als die DW mit ihr spricht, hat Mah Bigum seit über zwei Wochen das Haus nicht mehr verlassen – seitdem die Taliban in Kabul einmarschiert sind. Sie hat immer wieder Panikattacken. Ihr Leben, sagte sie mit zitternder Stimme, sei "ruiniert".
Geboren wurde die junge Hazara im Jahr 2001, als das erste Taliban-Regime fiel. Sie hat dann später von ihren Verwandten viel über die brutale Herrschaft gehört: von öffentlichen Hinrichtungen, dem Verbot von Musik, der Rechtlosigkeit von Frauen – aber auch von grausamen Verbrechen, die die Taliban an ihrer Volksgruppe, den Hazara, verübt haben.
Zwischen vier und acht Millionen Hazara leben in Afghanistan. Die Geschichte der ethnischen Minderheit ist geprägt von Unterdrückung. Hazara sind überwiegend Schiiten und werden seit Jahrzehnten von der sunnitischen Mehrheit in Afghanistan ausgegrenzt und diskriminiert.
Als die Taliban in den 1990er-Jahren an die Macht kamen, begannen sie, die Hazara systematisch zu verfolgen. Für die sunnitischen Hardliner waren sie Ungläubige. Es kam zu Massakern und Zwangskonvertierungen. Wer konnte, floh.
Nach dem Sturz der Taliban verbesserte sich die Lage der Hazara. Einige stiegen in einflussreiche Positionen in Politik und Gesellschaft auf, wurden Parlamentarier, Gouverneure und stellten eine Zeitlang den Vizepräsidenten.
Und auch wenn die Hazara in den vergangenen 20 Jahren weiter diskriminiert wurden, auch wenn die Taliban und der lokale Ableger des sogenannten Islamischen Staates Anschläge auf ihre Schulen und Krankenhäuser verübten, entwickelte sich eine starke Zivilgesellschaft. Viele Hazara besuchten Schulen und Universitäten. Das, sagt Mah Bigum verzweifelt, sei jetzt wahrscheinlich vorbei.
Hazara "in Lebensgefahr"
Viele Hazara, mit denen die DW in den vergangenen Tagen gesprochen hat, sehen unter der Taliban-Herrschaft keine Zukunft für sich in Afghanistan. Ihnen drohe "ethnische und religiöse Verfolgung", sagt Mahdi Raskih, der bis zuletzt im afghanischen Parlament saß, die Hazara seien "in Lebensgefahr." Andere sprechen über ihre Angst vor neuen Massakern und Zwangskonvertierungen. Kaum einer glaubt den Versprechungen der Taliban, die seit ihrer Machtübernahme immer wieder versichern, die Rechte von Frauen, aber auch die der Minderheiten, achten zu wollen.
Das sei nur Propaganda für die internationale Gemeinschaft, auf deren Entwicklungshilfe die Taliban angewiesen seien, um die kurz vor dem Zusammenbruch stehende Wirtschaft Afghanistans zu stützen. Die Taten der Taliban sprächen eine andere Sprache.
Massaker und eine erschütternde Botschaft
So dokumentierte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International die brutale Ermordung von neun Hazara-Männern in der zentralafghanischen Provinz Ghazni, kurz nachdem die Taliban dort Anfang Juli die Kontrolle übernommen hatten. Dem Bericht zufolge wurden sechs der Männer von Talibankämpfern erschossen, drei wurden zu Tode gefoltert.
Diese Tötungen, so heißt es in dem Amnesty-Bericht, "stellen wahrscheinlich nur einen winzigen Bruchteil der von den Taliban bisher insgesamt verursachten Todesopfer dar", da die neuen Machthaber in vielen Gebieten den Handyempfang unterbrochen hätten, wodurch keine Fotos und Videos mehr nach draußen gelangten.
Habiba Sarabi hat Beweise für weitere Gräueltaten gesammelt. Sie könne aber keine Details nennen, sagt sie der DW, da dies die Augenzeugen gefährden könnte. Sarabi, eine Hazara, war die erste weibliche Gouverneurin Afghanistans. Sie diente als Ministerin für Frauenangelegenheiten und war eine von vier Frauen, die die afghanische Regierung bei den Verhandlungen mit den Taliban in Doha vertraten.
"Ich stehe unter Schock" sagt sie im Gespräch mit der DW. Kurz nach dem Interview schickt Sarabi den Link zu einem kurzen Video, das zwei Talibankämpfer zeigt. Der eine sagt in die Kamera, sie würden auf die Erlaubnis ihrer Anführer warten, alle in Afghanistan lebenden Hazara "auszulöschen".
Die DW konnte den Ursprung des Videos nicht eindeutig verifizieren. Quellen sagen aber, es sei schon vor einigen Monaten aufgenommen worden. Doch jetzt verbreitet sich die erschreckende Botschaft viral in den sozialen Medien. "Ich bin wie betäubt", sagte eine Frau gegenüber der DW, nachdem sie das Video gesehen hat. Es habe ihr den Atem geraubt.
Die Angst ist groß, dass die Taliban wieder beginnen, ihre Volksgruppe systematisch zu verfolgen, sobald die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft und der Medien nachlässt. Und dass sie beginnen, jene zu töten, die einen Widerstand der Hazara anführen könnten.
Einer dieser Anführer ist Zulfikar Omid. Der frühere Parlamentarier organisiert seit Monaten Soldaten und Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er hat in der Provinz Daikundi in Zentralafghanistan eine bewaffnete Hazara-Truppe aufgebaut. Seinen Angaben zufolge besteht sie aus 800 regulären Kämpfern und 5000 Freiwilligen.
Vorher habe er ausländische Regierungen angefleht, Afghanistan nicht den Taliban zu überlassen. "Alle haben gesagt: Die Taliban sind modern, sie haben sich verändert", erzählt er in einem WhatsApp-Telefonat von einem unbekannten Ort. "Aber die Taliban haben sich nicht verändert, das Töten, die Gewalt hat zugenommen."
Gerade habe er Gespräche geführt mit Ahmad Massoud, dem Sohn des legendären tadschikischen Kommandeurs Ahmad Schah Massoud, der erfolgreich gegen die übermächtige Rote Armee der Sowjetunion kämpfte und später auch als Anführer der Nordallianz gegen die Taliban. 2001 starb er bei einem Selbstmordanschlag. Sein Sohn, Massoud Junior, führt im Jahr 2021 eine Gruppe bewaffneter Rebellen in Pandschir an.Der Widerstand "ein Rezept für eine Katastrophe"
Die Provinz nördlich von Kabul war der einzige Teil Afghanistans, den die Taliban lange nicht unter ihre Kontrolle bringen konnten. Anfang September gelang es ihnen dann doch. Sie ist geprägt von den mächtigen Bergen des Hindukusch und dem tiefen Einschnitt durch das Pandschir-Tal, das in der Vergangenheit weder die Sowjetarmee noch die Taliban je einnehmen konnten.
Zulfiqar Omid sagt, Tadschiken und Hazara würden jetzt ihre Kräfte gegen die Taliban bündeln. Gegen eine Armee, die bei der Machtübernahme modernste amerikanische Waffen und Ausrüstung der afghanischen Armee erbeutet hat. Die Hazara hätten ihre Waffen auf dem Schwarzmarkt beschafft, erzählt Omid. Es seien vielleicht nicht die modernsten, aber die "Bereitschaft" und die Verzweiflung der Männer würden dies wettmachen.
Doch es gibt auch Stimmen, die den bewaffneten Widerstand für einen Fehler halten. Das sei "ein Rezept für eine Katastrophe", sagt Niamatullah Ibrahimi im DW-Interview. Der Politikwissenschaftler ist Dozent an der La Trobe University in Australien und Autor des Buches "The Hazaras and the Afghan State".
In seinen Augen hätten die Kämpfer keine Chance. Die Taliban, sagt er, könnten die Hazara-Regionen einfach von Nachschub und Hilfslieferungen abriegeln. Das würde schnell zu einer gravierenden Hungersnot führen. Außerdem sei zu befürchten, dass es als Reaktion auf den Widerstand zu neuen Massakern und Racheakten gegen die Hazara-Bevölkerung komme. Aus Angst vor den Taliban seien schon jetzt viele gut Ausgebildete geflohen.
Massenflucht nach Pakistan
Mehr als 6000 Afghanen, darunter viele Hazara, sind bereits ins pakistanische Quetta geflohen, berichten Quellen vor Ort. Die Stadt hat selbst eine große Hazara-Gemeinde. Die Geflüchteten seien in den Moscheen oder bei Einheimischen untergekommen.
Die DW konnte mit einem 27-jährigen Arbeiter sprechen, der Mitte August aus der Provinz Nimrus im Südwesten Afghanistans geflohen ist. Ahmad* hat zusammen mit sieben weiteren Familienmitgliedern Zuflucht bei einem Mechaniker in Quetta gefunden.
Auch er bestätigt, dass die Hazara den Beteuerungen der Taliban keinen Glauben schenken. Nach der Machtübernahme in Nimrus "begannen alle zu rennen und versuchten, das Land zu verlassen". An der Grenze habe Chaos geherrscht. Die Familie musste Beamte bestechen, um nach Pakistan zu gelangen.
Auch das mehrheitlich sunnitische Pakistan hat eine eigene Geschichte blutiger Gewalt gegen religiöse Minderheiten wie die Schiiten. Trotzdem sagt Ahmad: "Wir werden nicht zurückgehen, solange die Taliban in Afghanistan an der Macht sind."
Zu der Angst vor den Taliban kommt jetzt auch noch die Angst, dass der sogenannte Islamische Staat nach dem Abzug der US-Truppen und dem Zusammenbruch der afghanischen Armee wieder stärker werden könnte. Der lokale Ableger der Terrororganisation, IS-K, hatte in den vergangenen Jahren immer wieder blutige Anschläge auf Hazara-Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser verübt.
Keine Evakuierung von Hazara
Die 19-jährige Mah Bigum will angesichts der Lage nur noch fliehen. Verwandte im Ausland haben versucht, sie auf einen der letzten Evakuierungsflüge zu bekommen – vergebens.
Während Aktivisten der Zivilgesellschaft, Politiker, Journalisten und Personen, die für ausländische Militärs gearbeitet haben, als besonders Schutzbedürftige auf Evakuierungslisten kamen, wurde den Hazara als ethnische Gruppe bisher von keiner ausländischen Regierung ein solcher Status zuerkannt.
Das WhatsApp-Profil von Mah Bigum zeigt eine lächelnde junge Frau. Ihr Kopftuch ist zurückgeschoben; das lange Haar kommt zum Vorschein. Ihre Lippen sind rot geschminkt. Jetzt haben Verwandte ihr einen schwarzen Ganzkörperschleier gekauft. Er hänge an ihrer Tür, aber sie vermeide dort hinzuschauen: "Als Frau erwarten die Taliban von dir nur, dass du Kinder gebärst, dass du Sexsklavin bist." Sie weint verzweifelt.
Anders als in ihrem Lieblingsfilm "V wie Vendetta" hat Mah Bigum keine Hoffnung, dass ein Freiheitskämpfer auftaucht, um sie zu retten.
"Es ist unmöglich, in Afghanistan vor den Taliban wegzurennen", sagt sie leise.
Naomi Conrad, Birgitta Schuelke-Gill & Samad Sharif
© Deutsche Welle 2021
Mitarbeit: Shah Farhad, Nina Werkhäuser und Sandra Petersmann
Anmerkung der Redaktion: *Die Namen sind der Redaktion bekannt, wurden aber aus Sicherheitsgründen geändert.
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