Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah: Postkolonial präzise
Abdulrazak Gurnah zuzuhören, heißt, Geschichten von Migration zu lauschen, in denen der ewige Wechsel und beständige Umbruch gewiss sind. Es ist nicht die eurozentristische Mär der nationalen Unversehrtheit und Kontinuität, von der man liest. Es sind Geschichten des Sich-Neu-Erfindens, Transformierens und Weitermachens - zwischen Ländern, Kontinenten und Identitäten.
Sansibar: bewegende Inselgeschichte
Das Wandern zwischen den Welten ist dem 1948 in Sansibar geborenen Abdulrazak Gurnah in die Wiege gelegt. Die Insel, auf der er aufwuchs ist ein Melting Pot, der seinen Namen verdient: Der Handel über den Indischen Ozean - mit Sklaven, Nelken und Kokosnüssen - prägte seit dem 10. Jahrhundert die Geschicke der Insel, erst durch persische, später durch arabische Händler. 1861 wurde Sansibar zum unabhängigen Sultanat, was es bis zur Kontrollübernahme der Briten 1890 blieb.
Auf dieses Sansibar bezieht sich Gurnah in seinem zweiten Roman "Paradise", der 1994 ins Deutsche übersetzt wurde. Er spielt an der ostafrikanischen Küste in der Zeit unmittelbar vor dem Zugriff der Kolonialmächte. In Gurnahs Erzählungen stehen aber nicht unbedingt die Kolonisatoren im Mittelpunkt, sondern die Beziehungen zur arabischen und indischen Welt überwiegen. So rücken sie auch einen Blick zurecht, der die afrikanische Geschichte stets nur im Kontext kolonialer Machtausübung und somit bezogen auf Europa erzählt.
Zivilisation ohne Europäer
Mit "Paradise" stand Gurnah 1994 auf der Shortlist für den Man Booker Prize, es war sein größter Erfolg bis zur Nobelpreisverleihung. Der Roman wurde von der Literaturwissenschaft als Spiegelgeschichte zu Joseph Conrads "Heart of Darkness" gelesen, die den Blick von den Kolonisierten in Afrika umlenkt auf die Kolonisatoren.
"Ich will der Vorstellung widersprechen, dass der europäische Kolonialismus Ostafrika von der Trägheit zur Zivilisation führte. Die Realität ist komplexer, denn während vieler Jahrhunderte fanden viele andere Interaktionen statt, die bis heute andauern", so Gurnah in einem Interview zur Buchveröffentlichung von "By the Sea" ("Ferne Gestade") im Jahr 2001.
"Ich stelle den Kolonialismus als Zerstörung dar - nicht von etwas Harmonischerem oder Besserem, doch von einer Wirklichkeit, die das Resultat von Verhandlungen zwischen verschiedenen Kulturen war." Dieser Aspekt werde von der Geschichtsschreibung üblicherweise übergangen, so Gurnah 2001 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung.
Migration ins nasskalte England
Mit "By the Sea" und seinem Vorgänger "Admiring Silence" ("Donnernde Stille"), in dem ein namenloser Ich-Erzähler nach 20 Jahren in England wieder nach Sansibar zurückkehrt, wendet sich Gurnah der Migration zu, die auch zu seiner Lebensrealität gehört. 1964 wurde die arabische Elite, die 200 Jahre lang über die afrikanische Mehrheit auf Sansibar herrschte, gestürzt. Es folgten Massaker, Gurnah verließ Sansibar in Richtung England.
Mit 20 Jahren begann er zu schreiben, auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache Suaheli. Gurnah studierte in England und war viele Jahre lang und noch bis vor kurzem Professor für postkoloniale Literatur an der Universität Kent. Er befasste sich mit Schriftstellern wie dem nigerianischen Nobelpreisträger Wole Soyinka und dem Kenianer Ngugi wa Thiong'o, der in diesem Jahr ebenfalls unter den Favoriten für den Literaturnobelpreis war.
Überraschungswahl des Nobelpreiskomitees
Gurnah ist der erste tansanische Autor, der den Nobelpreis erhält und der erste schwarze afrikanische Schriftsteller seit Wole Soyinka 1986. Obwohl er weitgehend unbekannt ist, war die Auszeichnung längst überfällig, sagt Alexandra Pringle, seine langjährige Verlegerin bei Bloomsbury dem britischen Guardian. "Er ist einer der bedeutendsten lebenden afrikanischen Schriftsteller, und nie hat jemand Notiz von ihm genommen. Das hat mich fast umgebracht."
Gurnah selbst wurde von dem Anruf aus Stockholm in der Küche überrascht. "Ich dachte, das wäre ein Witz", sagte der Autor laut der Nobelpreis-Website. "Solche Dinge sind normalerweise Wochen im Voraus im Umlauf."
Deutschland hat Nachholbedarf
Von den zehn Romanen und mehreren Kurzgeschichten, die Gurnah schrieb sind nur fünf ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt der Roman "Die Abtrünnigen" 2006. Das stößt auch bei seinem deutschen Übersetzer Thomas Brückner auf Unverständnis, der seine Romane für ihren hintersinnigem Humor lobt. "Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtung seiner Figuren, ihres Innenlebens und auch dessen, was um diese Figuren und damit um den Autor herum vor sich geht", sagte er gegenüber der Presseagentur dpa.
Dabei hat Gurnahs neuestes Werk sogar Bezüge zu Deutschland: Das 2020 erschienene Buch "Afterlives" handelt von dem jungen Ilyas, der seinen Eltern von deutschen Truppen geraubt wurde und Jahre später in sein Heimatdorf zurückkehrt, um gegen sein eigenes Volk zu kämpfen.
Postkolonial präzise
Abdulrazak Gurnah erhält den Preis "für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals von Flüchtlingen in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten", begründet der Ständige Sekretär der Akademie, Mats Malm, die Wahl.
Gurnah selbst sagte der Nobel-Stiftung in einem Interview, viele afrikanische Flüchtlinge kämen "nicht mit leeren Händen" nach Europa. Unter den Neuankömmlingen seien viele "talentierte, tatkräftige Leute, die etwas zu geben haben".
Eine Wahl also die zeigt, dass die Zeit reif war, eine andere Perspektive ins Zentrum zu rücken. Von den 118 Literaturnobelpreisträgerinnen und -preisträgern, die seit 1901 ausgezeichnet wurden, stammten 95 aus Europa oder Nordamerika - also mehr als 80 Prozent. Gurnah ist erst der fünfte Afrikaner, der den Preis erhält. Bleibt nur zu hoffen, dass deutsche Leserinnen und Leser auch bald in den Genuss kommen, an diesen Perspektiven teilzuhaben. Denn zur Zeit sind auch die Übersetzungen komplett vergriffen.
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