Afghanistan – ein ruheloses Land

Porträt des Autors Zia Qassemi
Mit poetischer Sprache verknüpft Qasemi persönliche Schicksale mit historischen Realitäten. (Foto: privat/Sujet Verlag)

Ein kurzes Leben, das für ein ganzes Land steht: In „Der Mitternachtssammler“ erzählt Zia Qasemi die Lebensgeschichte eines körperlich eingeschränkten Mannes – und zeigt, warum Afghanistan uns viel mehr zu sagen hat, als wir in Deutschland so oft meinen. 

Von Gerrit Wustmann

„Sie haben Musa getötet.“ Mit diesen Worten beginnt Zia Qasemis Roman „Der Mitternachtssammler“. Sie, das sind die Taliban. Musa, das ist zu dem Zeitpunkt im September 2001, unmittelbar vor dem Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagon, ein dreißigjähriger Mann im kleinen afghanischen Ort Zarsang.  

Aufgrund einer Missbildung seiner Beine hatte Musa von Geburt an ein beschwerliches Leben. Im Roman steht er auf vielen Ebenen symbolisch für die jüngere Geschichte Afghanistans.   

Musa ist ein Sonderling – ebenso wie der Roman selbst, zumindest auf dem westlichen Buchmarkt. Denn dass afghanische Literatur beziehungsweise Bücher von afghanistanstämmigen Autoren in Europa erscheinen und gar ins Deutsche übersetzt werden (in diesem Fall vom Übersetzerduo Kurt Scharf und Ali Abdollahi) ist eine Seltenheit.  

Das verwundert aus zwei Gründen: Zum einen spielt Afghanistan politisch aufgrund der vielen Geflüchteten von dort eine bedeutende Rolle im bundesdeutschen Diskurs – man möchte glauben, das Interesse an dem Land ginge über die Schlagzeilen der Tagespresse hinaus.  

Zum anderen, weil man, wenn man sich auch nur ansatzweise für das interessiert, was Literatur uns zu sagen hat, an afghanischen Autoren kaum vorbeikommt, wie zuletzt zum Beispiel Hussein Mohammadi mit seinem herausragenden Roman „Scheherazades Erben“ gezeigt hat.  

Buchcover von Zia Qassemi Foto eines Knochens als Röntgenbild
(Foto: Sujet Verlag)

Ein Blick von unten

Zia Qasemi, 1975 in Afghanistan geboren, lebte lange in Iran und hat sich dort für afghanische Kunst und Kultur stark gemacht. Inzwischen lebt er meist in Schweden, hat mehrere preisgekrönte Lyrikbände vorgelegt und mit „Mitternachtssammler“ 2021 im renommierten Teheraner Verlag Cheshmeh seinen zweiten Roman veröffentlicht.  

Der mit knapp 200 Seiten recht kurze Roman schlägt einen Bogen von dreißig Jahren, erzählt Musas Geschichte und mit ihm die Geschichte Afghanistans. Ein Land, das nie Gelegenheit hatte, zur Ruhe zu kommen: von der sowjetischen Besatzung, dem Aufstieg der Taliban und der Zerrüttung durch lokale Warlords bis, ganz zum Schluss, der Andeutung des US-Angriffs infolge des 11. Septembers.  

Statt eine Perspektive von oben einzunehmen, begibt sich Qasemi nach ganz unten, ins dörfliche Leben einfacher, oft armer Menschen, die versuchen, aus ihren bescheidenen Möglichkeiten das Beste zu machen. 

Die bisweilen in märchenhaftem Duktus erzählte Geschichte spricht von Glauben und Aberglauben sowie von der Kunst, Dinge, die aufgrund von Bildungsmangel unerklärlich erscheinen, als Zeichen zu deuten. Es geht darum, Halt in der Religion zu finden, jedoch ohne auf Fundamentalismus zurückzugreifen.

Musa bleibt derweil das einzige Kind seiner Eltern, weil diese fürchten, dass auch weitere Kinder mit körperlichen Einschränkungen zur Welt kommen könnten. Deshalb beschließt sein Vater widerwillig, eine Zweitfrau zu suchen. Seine Hoffnung ist es, doch noch Kinder zu bekommen, die in der Lage wären, ihn und seine Frau Sultana im Alter zu versorgen. Auf seiner Suche nach einer potentiellen Braut wird er von einer Lawine verschüttet und stirbt.  

Musa und seine Mutter Sultana bleiben allein zurück. Aber sie brechen nicht unter Armut, Krieg und Unsicherheit zusammen, sondern beißen sich durch.  

Musa verdient etwas Geld, indem er sich bei Nacht auf den Friedhof begibt und Gräber öffnet, um Knochen von vor langer Zeit Verstorbenen einzusammeln und sie an einen Händler auf dem Basar zu verkaufen. Was mit den Knochen geschieht, weiß er nicht. Viele würden nach Pakistan geschickt, hört er, vielleicht um zu Gelatine verarbeitet zu werden. Auch der Händler weiß es nicht so genau und weil auch die Taliban daran mitverdienen, fragen beide nicht nach.  

Eines Tages hört Musa, es seien die Knochen der Ahnen, die die Menschen in ihrem Land verwurzeln. Als dann noch seine heimliche Liebe stirbt – die einzige Frau, die er je nackt gesehen hat – will er das Knochensammeln aufgeben. Denn nichts wünscht er sich sehnlicher, als eines Tages neben ihr begraben zu werden, auf dass ihre Knochen sich miteinander vereinen können. Doch mit dem Knochensammeln aufzuhören, käme einem Todesurteil gleich. 

Ein Roman wie Afghanistan selbst 

„Der Mitternachtssammler“ beginnt und endet mit Musas Tod. Dazwischen liegen drei Jahrzehnte im kurzen Leben eines Menschen, der ohne funktionierende Beine geboren wurde, der nie richtig auf die Füße kam und sich stets über den Boden kriechend bewegen musste. Er erleidet ständig Rückschläge und ist der Willkür der ihn umgebenden Welt ausgeliefert. Dennoch macht er immer weiter und hält an seinem Glauben ebenso fest wie an seinen Träumen. Ganz ähnlich wie Afghanistan selbst.  

Dass die Geschichte für Musa kein gutes Ende nimmt, dass sein früher Tod, seine Ermordung durch die Extremisten von Anfang an feststeht, kann man als Resignation lesen, eine Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit, die stellvertretend für das ganze Land steht.  

Muss man aber nicht. Denn es ist nicht Fatalismus, der aus Qasemis Roman spricht, nicht in erster Linie zumindest. Vor allem ist es eine Erzählung von Menschen, die keine Chance bekommen, sich ihrem Schicksal aber auch nicht ergeben. Das ist es, was letztlich Hoffnung macht – selbst wenn man bedenkt, dass sich seit 2001 nicht allzu viel zum Besseren gewendet hat.  

 

„Mitternachtsammler“ 
Zia Qasemi 
Aus dem Persischen von Kurt Scharf und Ali Abdollahi
Sujet Verlag, Oktober 2025
212 Seiten

 

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