"Die Stadt wird in Zukunft stärker sein"
Am glücklichsten war Bander Al-Ogaidy (25) in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg. Damals, erinnert er sich, brauchte es wenig, um etwas zu verändern. Manchmal fragten ihn die Menschen mitten in Trümmern und umgeben vom Gestank der Leichen: «Wieso lächelst du?» Er antwortete: «Um euch Hoffnung zu geben.»
Diese Zeit ist vorbei. Es ist bereits über fünf Jahre her, dass die Menschen auf den Strassen der irakischen Stadt Mossul ihre Freiheit feierten. Eine grosse Militäroffensive hatte die Terroristen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) aus dem Ort vertrieben. Der Sommer 2017 datiert nun in Geschichtsbüchern als Ende des Krieges – und für die meisten ausserhalb des Iraks endet die Erzählung hier. Doch in Mossul geht das Ringen um die Zukunft weiter. Was Bomben in wenigen Sekunden zerstören, dauert Jahre, um es zu wieder aufzubauen. Wie entsteht aus Ruinen wieder ein Zuhause?
Bander Al-Ogaidy merkt, dass kleine Gesten nun weniger bewirken als früher. Die Euphorie des Neuanfangs ist verflogen. Stattdessen erinnern Trümmerhaufen die Menschen an die dunkle Zeit, die sie endlich vergessen möchten, und an die viele Arbeit, die noch vor ihnen liegt.
Davon lässt sich Bander Al-Ogaidy nicht entmutigen, sein breites Lachen ist geblieben, auf dem Ärmel seines T-Shirts steht «Warnung! Niemand kann uns stoppen». Er musste früh lernen, stark zu sein. Im Krieg verlor er seine Mutter, sie hatte Krebs, doch die Familie konnte sie nicht aus der Stadt bringen. «Ich weiss, dass meine Mutter nicht möchte, dass ich vor meinen zwei kleinen Brüdern schwach bin», sagt er.
Ogaidy gehört zu einer Gruppe von jungen Moslawis, die ihre ganze Energie in eine Richtung kanalisieren: nach vorne. Sie wollen, dass ihre Heimat wieder lebt. Wenn sie von ihren Projekten erzählen, versprühen sie den Tatendrang von Menschen, die genug haben vom Sterben.
Drei Jahre lang war Mossul der Inbegriff des Schreckens. Am 10. Juni 2014 hissten die Terroristen des IS schwarze Flaggen auf den Regierungsgebäuden. Der Ort geriet weltweit in den Schlagzeilen, als der damalige IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi (1971–2019) sein Kalifat in der grossen Nuri-Moschee mitten in der Altstadt ausrief.
Traumatische Erinnerungen
Je länger die IS-Herrschaft dauerte, desto schwieriger wurde der Alltag für die Einwohner, die unfreiwillig unter der Terrororganisation leben mussten. Ogaidy erinnert sich, dass sie gegen Ende der IS-Herrschaft kaum mehr Essen und Wasser fanden. Manchmal musste er zuschauen, wie der IS auf öffentlichen Plätzen Personen köpfte, oder er sah Leichen von Strommasten hängen. Er wünschte, er könnte diese Bilder aus seinem Gedächtnis löschen.
Die Extremisten zerstörten das kulturelle Erbe, das Jahrtausende zurückreicht. Was sie verschonten, wurde bei der Rückeroberung der Stadt zerbombt: Das irakische Militär startete Mitte Oktober 2016 die Offensive, die neun Monate dauern würde und zur grössten urbanen Schlacht seit dem Zweiten Weltkrieg wurde. Zusammen mit einer internationalen Koalition befreiten sie zuerst den Osten der Stadt, später rückten sie in die Altstadt im Westen vor, wo sich der IS im Labyrinth aus Gassen verschanzte.
Wie zurzeit auch im Ukraine-Krieg waren in Mossul Strassen, Schulen und Wohnzimmer die neuen Schlachtfelder. Es ist eine Entwicklung, die dem Internationalen Roten Kreuz Sorge bereitet: Immer öfter werden Kriege mitten in Städten ausgetragen, wo unzählige Zivilisten getötet werden. Bomben unterscheiden nicht zwischen Gut und Böse. Als die irakische Regierung den Sieg über den IS in Mossul erklärte, gab es besonders in der Altstadt viel Tod und nur wenig Leben. Freiwillige rückten an, die mit Schaufeln und Schubkarren Leichen im Schutt bargen. Ein Künstler hat ihrem Einsatz eine Statue gewidmet.
Bander Al-Ogaidy geht an diesem Nachmittag durch die Gassen der Altstadt. Hühner gackern in Ruinen, die Hausmauern sind übersät mit Löchern von Maschinengewehreinschüssen, ein eingerissenes Plakat warnt vor Sprengfallen. Als ein kleiner Junge mit einer Plastikpistole an ihm vorbeirennt, sagt Ogaidy: «Sie kennen das halt.»
Suche nach Identität
Vor einem hellblau angemalten Haus bleibt Ogaidy stehen. Er gehört zum Team aus jungen Moslawis, die hier seit 2019 mit wenig Geld und viel Engagement das Kulturzentrum Bytna betreiben, dessen Name auf Arabisch «unser Zuhause» bedeutet. «Die Altstadt war so zerstört, dass wir dachten, hier sei der beste Ort, um die Identität von Mossul zurückzugewinnen», sagt er. Bytna ist nach wenigen Jahren bereits bekannt, regelmässig schauen Touristen und irakische Politiker vorbei. Sogar der französische Präsident Emmanuel Macron ließ sich vergangenen Sommer durch das hundertjährige Gebäude führen.
Das Team hatte das Dach des Kulturzentrums in ein Café mit Bühne umgebaut, auf der Autoren aus ihren Büchern vorlesen oder die Einwohner von Mossul über ihre Zukunft debattieren konnten. In den Räumen unten erinnern Schwarz-Weiß-Bilder an die Blütezeit der Stadt, auf die Ogaidy wie die meisten Moslawis stolz ist.
Er steht in einem Zimmer voll mit antiken Gegenständen – Wasserkaraffen, Kerzenständer, Messer – und sagt, diese sähen unspektakulär aus, doch Eltern kämen mit ihren Kindern hierher und erklärten ihnen, wie der Alltag einst gewesen sei. Er zeigt auf ein gerahmtes Foto, auf dem drei Geistliche zusammensitzen: ein Muslim, ein Christ und ein Jude. Früher lebten Menschen verschiedenster Religionen und Ethnien in Mossul.
Das war lange vor dem IS. Juden verliessen den Irak in den 1950er Jahren. Viele Christen flohen im Jahrzehnt nach der US-Invasion 2003, als Al-Qaida und andere Milizen begannen, Mossul ähnlich wie eine Mafia zu kontrollieren. Die Stadt war geprägt von Morden, Entführungen und Bombenanschlägen, die unter anderem auf religiöse Minderheiten abzielten. Wer von ihnen trotzdem blieb, flüchtete spätestens dann, als der IS Mossul eroberte. Bis heute sind nur rund 50 bis 70 christliche Familien zurückgekehrt.
Ogaidy, ein Muslim, hofft, dass bald mehr Christen zurückkommen: «Die Vielfalt war immer eine Stärke von Mossul.» Im Gegensatz zu den politischen Fraktionen in der Hauptstadt Bagdad, die durch ihren Streit um Macht und Gott das Land lähmen, gehört Ogaidy zu einer jüngeren Generation im Irak, die sich für den gesellschaftlichen Dialog einsetzt.
Mehr als nur Gebäude aufbauen
Zehn Gehminuten von Bytna entfernt versucht Anas Zeyad (30), ebenfalls Muslim, einen Raum zu schaffen, in dem sich Christen in Mossul wieder zu Hause fühlen können. Er leitet die Baustelle der Kirche al-Tahira, vor deren Ruine der Papst im Frühjahr 2021 eine Rede hielt.
«Eine Kirche kann die Menschen zurück in die Gegend locken, um sich zu erinnern, ihre Geschichten auszutauschen, auch wenn es traurige sind. Und sie gibt Hoffnung, neue, glückliche Geschichten zu schaffen», sagt der Bauingenieur.
Noch bleiben überall Spuren der Gewalt. Die Mauern, die nicht kollabierten, sind voller Einschusslöcher, in einem Anbau steht schwarz gesprayt «Staat des Kalifats». Die Kirche, die kaum mehr als solche erkennbar ist, soll bis Ende 2023 wieder stehen.
Ihr Aufbau ist Teil einer Initiative der Unesco, die das kulturelle Erbe und die religiöse Vielfalt von Mossul wiederbeleben will. Die Vereinigten Arabischen Emirate und die Europäische Union stecken Millionen in das Projekt. Nach drei Jahren Vorbereitung hat im März nun die Rekonstruktion der wichtigsten Bauten begonnen.
Anas Zeyad erzählt, dass die Arbeiter zuvor 2500 Tonnen Schutt wegräumen und die stehengebliebenen Mauern stabilisieren mussten. Sie bargen fast 5000 Bruchstücke und Fragmente der Kirche, die sie sortierten und erfassten. Das Ziel ist, möglichst viele Originalteile wieder zu verwenden. «Es bedeutet mir viel, den Leuten sagen zu können, dass wir einen Stein genau dort einsetzen, wo er früher war», sagt Zeyad. Auch deshalb ist der Wiederaufbau so kompliziert: Er soll nach vorne weisen, aber gleichzeitig auch zurückblicken.
Der Bauingenieur steigt die Treppe hoch auf ein Stück des Kirchendachs. Er schaut über seine Heimat, aus der er am Tag des IS-Ansturms geflohen ist. In der nordirakischen Stadt Erbil, wo er vorübergehend wohnte, konnte er sein Studium beenden. Seine Kollegen hingegen, die in Mossul ausharrten, verloren drei Jahre. Zeyad kehrte zurück, sobald das Militär den Ort 2017 befreit hatte.
Vom Dach der Kirche aus sieht er ein Panorama der Zerstörung. «Manchmal fühlt es sich überfordernd an», sagt er. «Alles sollte wieder aufgebaut werden, nicht nur eine Kirche.»
Die Altstadt rund um ihn herum ist das Gegenteil des Ostteils von Mossul, der deutlich weniger zertrümmert wurde. Dort blüht mittlerweile das Leben. Restaurants sind bis spät in die Nacht geöffnet, Leuchtreklamen blinken in den Strassen. Ein scheinbar erholter Ort, wären da nicht Kinder, die betteln und an roten Ampeln Süssigkeiten durch Autofenster verkaufen. Viele ihrer Väter sind tot, die Mütter haben keine Arbeit. Wie viel Leid darf ein Krieg verursachen, um noch mehr Leiden zu verhindern?
Anas Zeyad schaut vom Dach der Kirche in den Westen. Dort ragte früher das berühmte Minarett der Nuri-Moschee in die Höhe, das der IS kurz vor seiner Niederlage in die Luft sprengte. Es war das Wahrzeichen Mossuls. Als Zeyad vom Einsturz erfuhr, begann er zu weinen. «Wer das Minarett vernichtet, zerstört meine Stadt», sagt er. Ein Gebäude bedeutet den Menschen mehr als nur Steine.
Vertrauen zurückgewinnen
Der Stumpf des Minaretts, der gegenüber dem Kulturzentrum Bytna steht, ist ebenfalls Teil der Unesco-Initiative. Der Turm soll auch bis Ende 2023 fertig aufgebaut sein. Ein Arbeiter auf der Baustelle erzählt, dass in den vergangenen Jahren, als sie Steine katalogisierten und den Boden stabilisierten, die Menschen in Mossul manchmal gefragt hätten: Wieso geht es nicht vorwärts, wieso sehen wir das Minarett noch nicht?
Zum Wiederaufbau gehört auch, Vertrauen zurückzubringen. Das weiß Abdullah Mahmood (42), der im Kulturministerium von Mossul arbeitet. Er steht vor dem Stumpf des Minaretts und erklärt, dass sie während des ganzen Prozesses die lokale Bevölkerung immer wieder einbeziehen. Sie ließen Umfragen durchführen zu den Bauplänen und laden Moslawis auf das abgesperrte Gelände ein. Viele der Arbeiter der Unesco-Initiative sind Einwohner von Mossul. Über 3000 lokale Jobs wurden geschaffen, ein Drittel der angestellten Ingenieure sind Frauen.
Bander Al-Ogaidy im Kulturzentrum Bytna erinnert sich genau an den Tag, als das Minarett kollabierte. «Ich konnte danach zwei Nächte lang nicht schlafen», sagt er. Der Einsturz gehört zu den vielen Momenten, die er vergessen möchte.
Wenn in seinem Kopf die Bilder der Leichen auftauchen, die von Strommasten hängen, sagt er sich, es sei nur ein Albtraum gewesen. Ogaidy, der an der Universität Mossul Psychologie studiert, arbeitet bei einer Organisation, die psychologische Hilfe anbietet. Es bedeute ihm viel, seiner Gemeinschaft helfen zu können, sagt er. Die Traumata der Menschen seien gewaltig. Manchmal, wenn er zuhört, sind die Erlebnisse auch für ihn selbst schwer zu ertragen.
Doch wie viele Menschen in Mossul betont er, dass aus all dem Horror auch Positives entstanden sei. Die Stadt, die schon vor dem IS von Morden und Anschlägen durchgeschüttelt wurde, ist nun sicher. Und auch die Mentalität habe sich sehr verändert. Die Gesellschaft in Mossul sei nun viel offener: Frauen fahren Auto, sie gehen arbeiten und gründen Firmen.
Dem stimmt auch der Bauingenieur Anas Zeyad zu, doch er ist nur verhalten optimistisch. Viele Firmen und Investoren seien in andere Städte abgezogen. «Es ist schwierig, das Leben zurückzubringen», sagt er. Bander Al-Ogaidy hingegen ist zuversichtlich: «Weil die Stadt so viel durchmachen musste, wird sie in Zukunft noch stärker sein.»
Wenn Ogaidy durch die Altstadt spaziert, lacht er oft in seine Kamera und macht ein Selfie. Manchmal steht er vor Gassen, die frisch renoviert sind, manchmal vor einem Trümmerhaufen. Die Fotos teilt er auf Social Media. Der Aufbau einer zerstörten Stadt ist ein ständiges Hin und Her zwischen Hoffnung und der Erinnerung daran, wie viel Arbeit noch zu tun ist.
Karin Wenger (Text) und Philip Breu (Fotos)
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Mitarbeit vor Ort: Alaa Mohammed